Wenn es Gott nicht gibt, gibt es auch kein Recht, das Leben zu gestalten

von Pfarrer Marc Grießer

24. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A; Röm 14,7-9; Mt 18,21-35)

„Jeder hält Vergebung für einen schönen Gedanken - bis er selber jemandem vergeben soll“, sagte der englische Schriftsteller C.S. Lewis und bringt so das Evangelium dieses Tages auf den Punkt. Ja, genauer besehen, wird hier wohl ein Grundproblem des Glaubens in unserer Zeit angesprochen. Es gibt wohl manches, was der eine oder andere am christlichen Glauben als ganz nett ansieht, sobald es allerdings persönlich wird, winkt man ab. Ich soll glauben - vielleicht sogar, dass Christus Herr über Lebende und Tote ist, wie es der Römerbrief sagt? Was uns als Glaubenden entgegenschlägt, ist häufig nicht unmittelbare Ablehnung, sondern Gleichgültigkeit - so jedenfalls meine Erfahrung. Lässt sich diese Gleichgültigkeit durchbrechen, lässt sich auch heute glaubwürdig verkünden, dass Christus der Herr über Lebende und Tote ist?

Anstatt uns nur darüber zu beschweren, dass die Kirchen leerer und die Menschen gleichgültiger werden, schauen wir doch einmal genauer hin, worin diese Gleichgültigkeit dem Gottesglauben gegenüber gründet: offenbar in dem Gefühl, immer wieder neu anfangen zu können, das eigene Leben formen zu können, und zwar nach Belieben, nicht nach den Vorgaben einer Kirche oder gesellschaftlichen Gewohnheiten entsprechend. In den Medien gipfelt das dann in bewundernden Sätzen wie „Er oder sie hat sich neu erfunden“. In den meisten Fällen ist ein solcher Neuanfang, eine solche Formbarkeit des Lebens eher ein Trugschluss, man ist eingezwängt in die Vorgaben des Berufes, in die Notwendigkeiten der Familie, aber die meisten brauchen offenbar wenigstens das Gefühl, ich kann mein Leben formen, muss nicht den Vorgaben anderer folgen. Dieser Eindruck, dass das eigene Leben vielleicht sogar beliebig formbar ist, entspringt - so bin ich überzeugt - letztlich einem Geschenk Gottes, das als solches nicht erkannt wird. Woher kommt dieses Leben, das mir zu formen in die Hand geben ist? Ich kann natürlich sagen, es sind die großen Zufälle, die Wechselspiele der Natur, die mir mein Leben in die Hand geben haben, es gibt keinen Gott, der mir was zu sagen hätte, der Herr über Lebende und Tote wäre, wie Paulus behauptet, und so habe ich das Recht, mein Leben nach Belieben zu formen und neu zu beginnen, wann es mir gefällt. Doch hierin liegt ein Denkfehler, denn wenn es Gott nicht gibt, dann gibt es auch kein Recht im tiefsten Sinne, denn ein Recht ist etwas, das mir verliehen wird, oder das mir zusteht durch eine größere Gerechtigkeit, die der Mensch nicht machen kann - kurz gesagt: durch Gott. Ein griechischer Philosoph hat einmal gesagt, der Tod ist der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir im Leben einander den Platz wegnehmen. Wenn es Gott nicht gibt, dann ist mein Platz im Leben nur etwas, das ich den anderen wegnehme. Man denke auch daran, dass Neuanfänge Folgen für andere Menschen haben, z.B. für einen Partner, der verlassen wird. Und doch verhalten sich - so jedenfalls meine Beobachtung - auch Menschen, die nicht glauben, nicht so, sie sehen es als ihr Recht an, das Leben nach Belieben zu formen. Ja, wir haben das Recht, unser Leben zu gestalten, weil es ein Geschenk Gottes ist, jedes Geschenk hat aber einen Inhalt, deswegen bin ich auch nicht eine beliebig neu zu erfindende Persönlichkeit, sondern ein Jemand mit Stärken und Schwächen. Und wer von der grenzenlosen Formbarkeit seines Lebens träumt, muss ehrlicherweise einräumen, dass es das so nicht gibt. Wir alle haben unsere Prägung und unsere Geschichte, die wir nicht loswerden. Und doch dürfen wir auch mit dieser Geschichte neu anfangen: durch die Vergebung. Dieses Gefühl, neu anfangen zu können, ist eben auch Teil des nicht verstandenen Geschenkes Gottes. Ich kann mich nicht einfach neu erfinden, aber ich darf mit meiner Geschichte neu anfangen, weil Gott mir vergibt, weil Menschen mir vergeben, hoffentlich sogar öfter als siebenundsiebzig Mal im Laufe eines Lebens.

Viele Menschen glauben heute an das Recht, ihr Leben nach Belieben zu formen, und übersehen so, dass es dieses Recht nur gibt, wenn das Leben ein Geschenk Gottes ist. Ein Recht kann ich nicht machen, es wird mir verliehen oder gründet in einem größeren, nicht verfügbaren Zusammenhang - in Gott. Ich kann es beanspruchen, weil ich meine, das ich es schon habe, z.B. ein Menschenrecht, aber ich kann kein Recht selbst aufrichten. Beliebige Formbarkeit gibt es nicht, wohl aber Vergebung. Eben dies müssen wir bezeugen, nur so lebt Kirche. Heute feiern wir in der Gemeinschaft der Glaubenden, aber diese Gemeinschaft muss über diesen Tag hinausreichen. Ich will es in einem Bild beschreiben: In einem Dorf schließt die letzte Gastwirtschaft. Alle sind der Meinung, das geht nicht, ein Dorf braucht eine Gastwirtschaft, schließlich treiben sie einen neuen Wirt auf. Es gibt ein rauschendes Fest zur Neueröffnung, doch die nächsten Wochen bleibt die Gastwirtschaft leer. Als der Wirt die Leute fragt, die ihn gerufen haben, sagen sie: Nächstes Jahr hat unser Kind Erstkommunion, da feiern wir bei Ihnen, oder: in drei Jahren wird die Oma 90, das Fest machen wir bei Ihnen, aber sonst haben wir keine Zeit. Diese Gastwirtschaft hat keine Zukunft. So geht es auch der Kirche. Nur wenn wir gemeinsam Kirche leben und sie nicht nur als Dach für gelegentliche Festivitäten begreifen, wenn wir uns als Zeugen des Glaubens verstehen - mit dem, was uns ausmacht -, nur dann können Menschen sehen und erleben, dass wir eine gute Botschaft haben, ohne die das Leben wurzellos ist. Die Haltung der Gleichgültigkeit hat keine Zukunft, sie setzt eine gewisse Normalität im guten Sinne voraus: dass es Normen, also Werte und Haltungen gibt, die alle verbinden. Wo jeder sein Leben glaubt, beliebig formen zu können, gibt es diese Gemeinsamkeiten nicht mehr.

Diese Gleichgültigkeit vieler Menschen dem Glauben gegenüber gründet auch im Glauben an das Recht, das eigene Leben beliebig formen zu können. Sie übersehen so, dass es kein Recht gibt, wo es Gott nicht gibt, ein Recht kann ich nicht machen, es wird mir verliehen oder gründet in einem größeren, nicht verfügbaren Zusammenhang - in Gott. Es liegt an uns, dies immer wieder zu bezeugen, es liegt an uns, einander zu vergeben. Und vielleicht darf ich deshalb am Schluss das Evangelium aktualisieren. Wie oft muss ich dem Pfarrer vergeben, wenn mir etwas nicht gefällt? Mindestens siebenundsiebzig Mal!