Unsere Gerechtigkeit muss sich durch Güte hinterfragen lassen

von Marc Grießer

25. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A; Mt 20, 1-16a)

„ . . . dass ich . . . Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben werde“ - das muss auch der nächste Bundeskanzler oder die nächste Bundeskanzlerin im Amtseid, den das Grundgesetz vorschreibt, versprechen. Wenn ich diesen Satz höre, überkommt mich ein ungutes Gefühl. Wird hier nicht etwas Übermenschliches versprochen? Was heißt denn Gerechtigkeit? Das Erntedankfest in einem Land, dem es vergleichsweise gutgeht, legt uns auch diese Frage nahe. Ist es gerecht, wenn ich immer ganz gerecht bin, oder sollte ich als Christ - vielleicht auch einfach als Mensch - nicht auch barmherzig sein? Das Evangelium dieses Tages zeigt uns, dass Güte und Gerechtigkeit oft genug in einem Spannungsverhältnis stehen. Gehen Güte und Gerechtigkeit zusammen? Und lässt sich überhaupt denken, ja glauben, dass Gott beides ist - gut und gerecht?

Im Evangelium stützt sich der Gutsbesitzer auf die Tatsache, dass in damaliger Zeit ein Denar ein angemessener, man könnte auch sagen: gerechter Lohn für die Arbeit eines Tages war. Er ist also nicht ungerecht den Arbeitern der ersten Stunde gegenüber, sondern gütig zu denen der letzten Stunde, indem er ihren Lohn aufstockt. Aber ist das nicht doch ungerecht gegenüber denen, die mehr gearbeitet haben, wenn für sie ein strengerer Maßstab gilt? Wenn ich im Recht bin, wünsche ich mir wahrscheinlich eher, dass Gerechtigkeit geübt wird. Wenn ich der Schwache bin, wünsche ich wohl eher, dass Gnade vor Recht geht. Lassen Sie uns einmal überlegen, was Gerechtigkeit meint. In alter Zeit pflegte man Gerechtigkeit mit dem lateinischen Wort „suum cuique“ zu umschreiben, zu deutsch: jedem das Seine. Wenn jeder bekommt, was für ihn angemessen ist, dann ist das gerecht. Lässt sich hier nicht auch eine Verwandtschaft zur Güte entdecken? Güte heißt doch auch, dass ich wahrnehme, was der andere braucht. Sonst befriedige ich vielleicht mein Helfer-Syndrom, meinen Wunsch, vor anderen wichtig zu sein, so nach dem Motto: Seht her, wie viel der spendet. Aber ich bin nicht wirklich gut zu einem anderen. Wahre Güte nimmt den anderen in den Blick, sieht, was er braucht, was ihm angemessen ist. So haben wir eine Verwandtschaft zwischen Güte und Gerechtigkeit entdeckt, im Letzten geht es um das, was der andere braucht, was ihm angemessen ist. Das löst die Spannung nicht auf, zeigt aber die Verwandtschaft zwischen Güte und Gerechtigkeit. Dieser letzte Blick auf den Menschen, ja in den Menschen übersteigt unsere Möglichkeiten und kommt nur dem zu, der keine Grenzen kennt und der allein wirklich gut und gerecht ist: Gott.

Die Erinnerung an unsere begrenzten Möglichkeiten zeigt noch einen weiteren Zusammenhang von Güte und Gerechtigkeit auf. Vollkommene Gerechtigkeit gibt es in dieser Welt nicht - wer wollte das bestreiten? Eben deshalb müssen wir unsere Maßstäbe, nach denen wir zu beurteilen versuchen, was gerecht und angemessen ist, immer wieder durch die Güte in Frage stellen lassen. Die Güte erinnert uns daran, dass keine Entscheidung, die wir treffen, schlechthin gerecht ist. Wäre es denn gerecht, wenn der Gutsbesitzer sagen würde: „Du hast Pech gehabt, dass dich so lange keiner angeworben hat, so hast du nur eine Stunde gearbeitet, deshalb steht dir der eine Denar nicht zu, deine Familie muss eben heute Abend hungern, vielleicht hast du morgen wieder mehr Glück“? Wäre das gerecht? Die Güte erinnert uns daran, dass keine menschliche Entscheidung vollkommen ist, kein System vollständig gerecht, dass es die Güte braucht, die immer wieder berichtigt, die uns nötigt, mehr zu tun, mehr zu geben, als wir eigentlich für angemessen halten. Lehrt nicht auch das 20. Jahrhundert, dass gerade die brutalen Diktaturen Systeme waren, die glaubten, vollständige Gerechtigkeit entdeckt zu haben und deshalb keine Güte mehr brauchten - und gerade so unmenschlich wurden?

Doch - wie schon gesagt - die Verwandtschaft von Güte und Gerechtigkeit liegt nicht nur in unserer Unvollkommenheit, sonst wäre ja in Gott eines von beiden überflüssig, sonst wäre Gott nicht gut u n d gerecht. Gerechtigkeit hat heutzutage in den Ohren der meisten oftmals keinen so guten Klang - außer man versteht soziale Gerechtigkeit darunter. Gerechtigkeit klingt kalt und unbarmherzig. Ich glaube, Gerechtigkeit hat viel damit zu tun, dass ich einen Menschen ernst nehme .Ich akzeptiere die Freiheit des anderen und damit auch seine Verantwortung für die Folgen seiner Taten. Ich nehme ihn ernst als erwachsenen, selbständigen Menschen, dem ich zutraue und zumute für die Folgen seiner Handlungen einzustehen. Gerechtigkeit zu üben, heißt auch den anderen ernst zu nehmen. Und wer von uns möchte nicht ernst genommen werden? Ernst nehmen kann ich einen anderen jedoch nur, wenn ich auch ein Mindestmaß an Verständnis für ihn aufbringe. Der Gutsbesitzer nimmt den Arbeiter der letzten Stunde ernst, er sieht sein Bemühen, als Tagelöhner für diesen Tag eine Arbeit zu finden, was ihm bis zum nahenden Abend nicht gelang. Er versteht seine Situation als - so kann man vermuten - Ernährer einer Familie, die darauf wartet, dass er genug nach Hause bringt, damit alle zu essen haben. Ernst-Nehmen ist sozusagen die Grundhaltung der Gerechtigkeit, Verstehen die der Güte. Beides gehört zusammen. Ich verstehe einen anderen, a u c h indem ich ihn ernst nehme und umgekehrt. Güte und Gerechtigkeit sind nicht einfach dasselbe, aber sie gehören zusammen. Dass wir Menschen nach beidem streben, obwohl wir doch weder wirklich gerecht noch wirklich gut sind, zeigt für mich auch immer wieder unsere Bezogenheit auf Gott. Menschen suchen die ideale Gerechtigkeit, die vollkommene Güte und gestehen sich doch nicht ein, dass sie Gott suchen.

Ganz gut und ganz gerecht ist letztlich nur Gott. Und doch lässt sich auch in unserer unvollkommenen Welt eine Verwandtschaft zwischen Güte und Gerechtigkeit feststellen. Suum cuique, jedem das Seine - so pflegte man Gerechtigkeit zu beschreiben. Doch auch wer gut und barmherzig handeln will, muss sehen, was der andere braucht, was ihm angemessen ist, sonst ist es keine wahre Güte. Hier scheinen unsere Grenzen auf, dieses letzte Verstehen ist uns verwehrt. Gerade deshalb müssen wir unsere Maßstäbe, nach denen wir urteilen, immer wieder auch durch die Güte in Frage stellen lassen, müssen manchmal mehr tun, als wir für angemessen halten. Gerechtigkeit setzt voraus, dass ich den anderen ernst nehme, und das geht nicht ohne Verstehen, was die Grundhaltung der Güte ist. Beides gehört nun einmal zusammen: Gerechtigkeit und Güte.