Warum bin ich heute in der Kirche?

27. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A; Jes 5,1-7; Mt 21,33-44)

Wer nicht m i t der Zeit geht, der muss mit der Zeit g e h e n — dieses Wortspiel wird gelegentlich auch auf die Kirche angewendet. Ob man diesem Wortspiel zustimmt oder nicht, die meisten sehen wohl, dass wir uns verändern müssen, wenn wir auch heute Kirche bleiben wollen. Das Evangeliums dieses Sonntags scheint nahezulegen, dass auch die Heilige Schrift der Kirche Veränderung zumutet. Für die Hörer des Gleichnisses, das Jesus erzählt, ist klar, wer der Weinberg ist, von dem Jesus spricht: das auserwählte Volk Israel, im Alten Testament wird Israel mehrfach so bezeichnet, in der Lesung haben wir ein Beispiel dafür gehört. Dieses Volk kann sich seiner Nähe zu Gott nicht einfach sicher sein, wenn es sich von Gott abwendet, wird er ein neues Volk erwählen, das keine nationalen Grenzen kennt. In diesem neuen Volk erkennt sich die Kirche wieder. Also alles gut für uns? So einfach ist es wohl nicht. Die Evangelisten erzählen solche Geschichten nicht einfach aus historischem Interesse, sondern immer mit Bezug auf die Gemeinde, für die sie schreiben. Auch die christliche Gemeinde muss sich warnen lassen, ob sie sich auf falschen Lorbeeren ausruht. Bringen wir die erwarteten Früchte? Oder anders gefragt: Sind wir Kirche für die Menschen von heute?

Ich gebe zu, die Frage ist ein bisschen weit gefasst und wird auch in diesem Rahmen nicht erschöpfend beantwortet werden können, aber ich denke — salopp gesagt —, manchmal muss man ein großes Fass aufmachen, um klarer zu sehen, worum es geht. Wenn wir uns fragen, wie wir Kirche heute sein können, müssen wir bei uns anfangen. Was bedeuten mir Kirche und Glauben? Warum bin ich heute hier? Mancher meckert, in der Kirche geschehe am Sonntag immer das Gleiche — wie langweilig! Abgesehen davon, dass das so nicht ganz stimmt, gehören Rituale zum Menschen, also Handlungen, die ganz bewusst gleich ablaufen, das gibt Sicherheit, so wie mancher vor einer Prüfung immer dasselbe macht. Der Sonntagsgottesdienst ist gewiss ein solches Ritual, aber ist das alles für mich? Wer ist Gott für mich? Eine anonyme Adresse, an die ich mich wende, wie manche Kinder Post ans Christkind schicken? Einfach ein Teil dieses Rituals, aber ansonsten ohne Bedeutung? Gott ist halt auch zu schwierig, mag mancher einwenden. Er soll da sein, vielleicht ahnt man das manchmal, aber oft genug ist davon nichts zu erfahren. Ist das aber nicht das Wesen jeder Begegnung — auch im zwischenmenschlichen Bereich? Begegnung heißt doch, dass ich etwas von mir zeige, aber gewiss nicht alles. Auch wer das in Zeiten des Internets und der sozialen Medien sogar versucht, wird es nicht schaffen. Begegnung — auch wenn man sich noch so vertraut ist — heißt immer, sich zu zeigen, aber auch  zu verbergen, niemand weiß alles über einen anderen Menschen, nicht einmal über sich selbst. In Gott zeigt sich das nochmal in radikaler Weise: er ist da und doch verborgen. Das christliche Gottesbild offenbart dies in ungeahnter Tiefe. Gott zeigt sich in Jesus, so wie er lacht und weint, wie er lebt und stirbt — so ist Gott. Doch zugleich entzieht er sich, niemand kann die Gestalt Jesu bis heute erschöpfend deuten, es lohnt sich Sonntag für Sonntag wieder über sie nachzudenken. Im Tod am Kreuz, den das heutige Gleichnis andeutet — der Sohn wird von den Pächtern getötet —, zeigt sich das auf verdichtete Weise. Leiden und Sterben werfen Fragen auf, die in dieser Welt nicht beantwortet werden können. Wenn wir Gott suchen, müssen wir dies im Blick behalten: er zeigt sich in radikaler Offenheit und Verletzlichkeit in Jesus und bleibt doch der Verborgene, der Unbegreifliche.

Ich bin überzeugt, dass wir heute die Gottesbeziehung in den Mittelpunkt stellen müssen, oder besser gesagt: verstehen, dass sie im Mittelpunkt steht. Hier tut sich der eine oder andere — gerade in unserer Zeit — mit dem biblischen Gottesbild schwer. Müssen wir Früchte abliefern? Ist Gott der Chef, und wir sind die Angestellten? Jesus musste, um für die Hörer seiner Zeit verständlich zu sein, vertraute Bilder wählen. Dass dies zweitausend Jahre später Fremdheit auslöst, ist unvermeidlich. Versuchen wir durch diese Fremdheit hindurch auf das Eigentliche vorzustoßen. Ich brauche gewiss keinen Sklaventreiber, aber ich brauche jemanden, der mir etwas zutraut und mich auch fordert, der nicht zulässt, dass ich meine Begabungen verlottern lasse. Ich glaube an einen Gott, der mich fördert und fordert — damit Begabungen gelebt werden und nicht versanden.

Aber ist Gott nicht zu groß für uns? Werden wir nicht automatisch kleingemacht, wenn wir ihn suchen? Mit solchen und ähnlichen Gedanken — so meine Erfahrung — werden immer wieder Begegnungen — auch im zwischenmenschlichen Bereich — zerstört. Man misst sozusagen aus, der andere ist zu groß oder zu klein für mich, der andere ist so wichtig, da muss ich gleich auf Attacke schalten, wenn ich dem begegne usw. So wird Begegnung zerstört — egal ob es um Gott oder Mensch geht. Lassen wir doch das Abmessen, ob einer zu groß oder zu klein ist. Begegnung gelingt und bereichert, wenn sie ein Neuanfang ist, wenn ich mich auf den anderen einlasse, dann kann der Funke überspringen, und es geschieht etwas, das bereichert. Gott begegnet uns in Jesus auf Augenhöhe, suchen wir seine Nähe, ohne danach zu fragen, wer groß oder klein ist.

Kirche für die Menschen von heute sind wir — so bin ich überzeugt — wenn wir erleben und leben, dass die Gottesbeziehung im Mittelpunkt steht. Er ist der in Jesus ganz und gar Nahe, der sich uns in radikaler Offenheit und Verletzlichkeit zeigt, und doch bleibt er auch der Verborgene, der Unbegreifliche. Letztlich kennt jede Begegnung und Beziehung diese Mischung aus Nähe und Abstand. Gott ist nicht einfach ein Chef, der Leistung fordert, er ist vielmehr der, der uns etwas zutraut, der uns ermutigt, der fördert und fordert. Letztlich kann wohl niemand seine Begabungen entfalten ohne solche Erfahrung von Fordern und Fördern. Gott ist nicht der Große, der uns kleinmachen will. Mit solchen Abmessungen — der ist groß, und der ist klein —, zerstört der Mensch Begegnung. Diese gelingt, wenn wir auf solches verzichten, Begegnung als Neuanfang begreifen, dann kann der Funke überspringen — auch in der Begegnung mit Gott.