Gott sieht jeden Menschen so an, als sei er die ganze Welt

Allerheiligen 2017 (Mt 5,1-12a)

Wir leben in einer Welt, die alles andere als friedlich ist. In manchen Kommentaren oder politischen Analysen taucht gelegentlich sogar wieder das Wort „Atomkrieg“ auf, ein Wort, von dem man schon geglaubt hat, es würde heutzutage keine Rolle mehr spielen. Wir leben auch in einer Welt, die — abgesehen von Sonntagsreden — nicht viel von Barmherzigkeit hält. Knallharter Wettbewerb ist eher der Normalfall. Was sollen wir in einer solchen Situation mit den Worten Jesu anfangen? Ist das naive Weltfremdheit eines Predigers? Ganz so einfach ist es ja nicht, denn er spricht auch von den Verfolgten und den Trauernden. Was sollen also diese Seligpreisungen? Können sie uns tatsächlich einen Weg zu mehr Frieden und Barmherzigkeit zeigen?

„Selig, die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden, selig die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.“ Jesus sagt nicht „Seid barmherzig“ oder „Stiftet Frieden“, er preist die selig, die schon so handeln, er verlangt nicht einfach etwas, um selig zu sein, sondern lädt eher zum Nachdenken ein. Warum ist jemand barmherzig, warum bemüht sich jemand um Frieden? Nun, man könnte sagen, weil das den Menschen nützt, jeder ist mal auf Barmherzigkeit angewiesen, und Frieden tut allen gut. Ist das aber so? Ich könnte auch anders argumentieren: Frieden und Barmherzigkeit nutzen vor allem den Schwachen, die sich selbst nicht durchsetzen können. Ist Frieden nicht eher ein Schaden für die Gemeinschaft, weil er sich immer am Schwächsten orientiert, letztlich nicht mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner zustande bringt? Ob ich Frieden und Barmherzigkeit als Werte anerkenne, hängt letztlich davon ab, wie ich mit Schwächen umgehe. Sehe ich sie als Feind des Menschen und akzeptiere so, dass Schwache auf der Strecke bleiben — um der Menschheit oder auch um meines eigenen Erfolges willen? Oder sehe ich Schwäche als etwas zutiefst Menschliches an, das Schutz verdient?

Wenn ich mich für den Schutz der Schwäche entscheide und damit auch für den Wert von Frieden und Barmherzigkeit, kann ich — so bin ich überzeugt — eine wichtige Entdeckung machen. Die Erfahrung von Schwäche, die es in vielfältiger Gestalt, z.B. durch Scheitern, gibt, kann zu einer tiefen Erfahrung werden. Das soll keine Verherrlichung der Schwäche sein, sondern ein Weg mit dem umzugehen, was uns ohnehin im Leben zugemutet wird. Die Erfahrung der Schwäche wirft mich in besonderer Weise auf mich zurück, lässt mich nochmals fragen, wer ich bin und was mir wichtig ist — so wie es in Zeiten des Erfolgs meist kaum möglich ist. Die Erfahrung der Schwäche kann mich Stärken entdecken lassen, die größer sind als manches, das ich verloren habe. So kann mir beispielsweise eine Niederlage ein Einfühlungsvermögen in den Menschen geben, das ich auf andere Weise nie bekommen hätte. Die Erfahrung der Schwäche führt mich tiefer zu mir selbst und lässt mich ganz neue Stärken entdecken. Jetzt könnte man natürlich sagen, aha, auch als jemand, der sich anders entschieden hat, der den Schutz der Schwächen ablehnt, wäre das doch annehmbar, als Mittel, um noch stärker zu werden. Aber das funktioniert nicht. So wenig wie ich einen Freund haben kann, weil ich nicht einsam sein mag. So funktioniert keine Freundschaft, ich kann nicht sagen: sei mein Freund, ich mag nicht einsam sein. Erst wenn ich dem anderen um einer selbst willen nahe bin und ihn nicht als Mittel zum Zweck sehe, darf ich erfahren, dass echte Freundschaft Einsamkeit vertreibt, und zwar in einem ganz tiefen Sinn. Die Stärke, die aus der Schwäche erwächst, kann ich nur erfahren, wenn ich wirklich vom Schutz der Schwäche überzeugt bin. Warum also sollte ich das sein? Warum sollte ich für den Schutz der Schwäche und des Schwachen sein und damit für Frieden und Barmherzigkeit?

Diesen Schutz der Schwäche und des Schwachen wird es nur geben, wenn wir an Gott glauben, wenn wir glauben, dass es den Größeren gibt, der jeden Einzelnen bedingungslos liebt. Dann werden die Friedensstifter wirklich Kinder Gottes genannt werden, und die Barmherzigen selbst das Erbarmen Gottes finden. Nur dann hat die Schwäche den Schutz, den sie braucht, ansonsten wird sich auf die Dauer der durchsetzen, der im Schwachen und in den Schwächen der Menschen Hindernisse sieht. Wir glauben an den Gott, der jeden liebt, der selbst schwach geworden ist und ebenso den Tod besiegt hat.

Am Montag sah ich in einem Kaufhaus als Geschenk kleine Ketten mit verschiedenen Namen und auf den kleinen Kartons, an denen sie befestigt waren, stand jedes Mal: „Du bist etwas Besonderes“. Mir ging auf, dass das eigentlich unlogisch ist. Wenn alle etwas Besonderes sind, ist es keiner mehr. Das Allgemeine, das für alle gilt, kann nicht etwas Besonderes sein. Das geht nur in den Augen Gottes. Jeden so ansehen, als gäbe es nur ihn, als sei er die Welt — das ist etwas wahrhaft Göttliches. Wenn wir bewahren möchten, dass jeder Mensch etwas Besonderes ist, dass auch der Mensch in seiner Schwäche geschützt ist — und ich glaube, das entspricht der Sehnsucht des Menschen und seiner unwillkürlichen Überzeugung —, dann geht dies nur im Glauben an Gott. So vieles, was wir schätzen, verdunstet und verschwindet ohne Gott. Versuchen Sie doch einmal, wo Sie Schwäche erfahren, genauer hinzusehen. Vielleicht entdecken Sie eine neue Stärke durch einen andern Blick aufs Leben. Gott geht mit Ihnen durch diese Schwäche hindurch.

Wenn wir uns den Worten Jesu in den Seligpreisungen anvertrauen, finden wir tatsächlich einen Weg zu mehr Frieden und Barmherzigkeit. Jesus setzt alles, was er hier sagt, in Beziehung zu Gott. Barmherzigkeit und Frieden werde ich nur schätzen, wenn ich die Schwäche des Menschen als schützenswert erlebe, weil jeder Mensch etwas zutiefst Besonderes ist. Diese Haltung lässt sich aber nur im Glauben an Gott durchhalten, nur er kann jeden Menschen so ansehen, als sei er die ganze Welt. Auch wenn der Mensch schwach ist, vielleicht gerade ganz besonders dann, weil der Erfolg den Menschen in bestimmte Rollen hineinzwängt, gerade dann ist er in den Augen Gottes etwas ganz Besonderes. Jesus drückt es so aus: „Selig, die arm sind vor Gott — denn ihnen gehört das Himmelreich.“