Das Reich Gottes ist kein Konto, auf das ich einzahlen kann

11. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Mk 4,26-34)

„2000 Jahre Christentum haben die Welt nicht besser gemacht!“ Diesen Vorwurf kann man so oder ähnlich immer wieder hören. Abgesehen davon, dass vieles, was uns heute selbstverständlich ist — man denke an die Krankenhäuser —, letztlich aus einer christlich geprägten Kultur erwachsen ist, mag einen manchmal doch das Gefühl beschleichen, ob an diesem Vorwurf nicht etwas dran ist. Jesus spricht in den Gleichnissen, die wir gehört haben, vom geheimnisvollen, langsamen Wachstum des Reiches Gottes, aber nach 2000 Jahren müsste doch tatsächlich etwas gewachsen sein. Auch in den — zumindest für lange Zeit — vom Christentum geprägten Gesellschaften sieht es allerdings nicht nach dem Reich Gottes aus. Warum ist das so, warum sehen, erleben wir nicht mehr vom Reich Gottes?

Das Problem fängt schon mit der Übersetzung an, das Neue Testament ist ja in altgriechischer Sprache geschrieben. Wenn wir „Reich“ hören, stellen wir uns eher einen Ort vor, wo man sagen kann: Da ist es, das Reich Gottes. Das Wort, das im altgriechischen Original verwendet wurde, meint aber nicht unbedingt einen Ort, es kann auch mit Königsherrschaft Gottes übersetzt werden. Die Königsherrschaft Gottes ist nicht ein Ort, sondern sie zeigt sich da, wo Menschen sich der Botschaft Jesu öffnen und Gottes Willen tun. Ich glaube nicht, dass Jesus eine Geschichts-Prophezeiung mit seinen Gleichnissen machen wollte, als wolle er sagen, die Königsherrschaft Gottes wird im Laufe der Zeit immer stärker. Ich denke, er wollte eher seinen Zuhörern — und damit auch uns — sagen: „Hab Mut, wenn du jetzt nichts von der Königsherrschaft Gottes spürst, sie ist trotzdem da, wenn es darauf ankommt, hast du die Kraft, dich zu Gott zu bekennen oder dem anderen zu helfen, auch wenn es dich nervt. Hab Mut, auch wenn dir manches, was du machst, klein erscheint, das scheinbar Große ist oft schnell wieder vergessen, viele kleine gute Taten bewirken mehr.“ Das Reich Gottes ist nicht einfach etwas, das durchbricht und wächst, es beginnt in gewissem Sinne in jedem Menschen neu. Niemand ist gezwungen einzutreten, jeder Mensch wird aufs Neue eingeladen, Jesus zu folgen.

Das Reich bzw. die Königsherrschaft Gottes bricht durch, blitzt auf, wo Menschen auch heute der Botschaft Jesu folgen und Gottes Willen tun — oft unbemerkt wie das Wachstum der Saat, aber letztlich genauso mächtig wie die große Senfstaude, die aus kleinen Anfängen hervorgeht. Aha, mag mancher denken, nette Erklärung gefunden, das Unbehagen über das ausbleibende Reich Gottes aber bleibt. Wenn wir auf unser Leben schauen, werden wir — so bin ich überzeugt — etwas finden, das uns die Dinge klarer sehen lässt. Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Rücksichtnahme — das sind doch allgemein anerkannte Verhaltensweisen, die wir mit dem Reich Gottes verbinden, weil sie konkret beschreiben, was Jesus mit Nächstenliebe meint. Doch solche Verhaltensweisen sind nicht einfach ein stetig wachsender Besitz, sie müssen sozusagen in jeder Situation neu geleistet werden. Manchmal zeigt sich einer hilfsbereit, von dem man das nie erwartet hätte, während ein anderer, den jeder als hilfsbereit einschätzt, mal einen schlechten Tag hat und eben nicht hilft. Hilfsbereitschaft und andere gute Eigenschaften sind nicht einfach ein Konto, auf das ich einzahle und das dann wächst, sondern in der konkreten Situation bin ich gefragt, und manchmal verwirkliche ich die gute Tat, so wie eben dann auch etwas vom Reich Gottes aufblitzt — ob es bemerkt wird oder nicht. Aristoteles, der große antike Philosoph, hat auch über diese Dinge nachgedacht, und er meinte, dass durch regelmäßige gute Taten der Mensch so etwas wie eine Gewohnheit ausbildet, durch die er mehr und mehr ohne nachzudenken das Gute tut. Gibt es also doch etwas Bleibendes, etwas das wächst, nicht nur gelegentlich aufblitzt? Es gibt so etwas, und ich würde das Treue nennen, Treue zu meinen Überzeugungen, zu dem, was mir wichtig ist. Wie gesagt — Hilfsbereitschaft ist nicht etwas, das ich einfach abrufen kann, ich muss sie jedes Mal neu leisten, manchmal gelingt das auch nicht, aber es gibt eine Treue, die mich ermutigt, den — wie man so sagt — inneren Schweinehund zu überwinden und das Gute zu tun.

Wir haben versucht zu verstehen, warum das Reich Gottes nicht etwas stetig Wachsendes ist, sondern etwas, das immer wieder aufblitzt in den Taten der Menschen. Wir haben gesehen, dass Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, die wir mit dem Reich Gottes verbinden, eben diese Beschaffenheit haben, dass sie nicht ein abrufbarer Besitz sind, sondern immer neu geleistet werden müssen. Dennoch gibt es eine Art Treue zu den eigenen Überzeugungen, die ermutigt, die guten Taten zu verwirklichen. Gibt es so eine Haltung bezüglich des Reiches Gottes auch? Ja, es ist das, was wir Glauben nennen. Er ist die Treue zu Gott, die Treue zur Botschaft Jesu, der uns immer wieder befähigen will, das Gute zu tun. Der Glaube ist die Treue, die Geduld, die auch in den Gleichnissen Jesu anklingt: Das Reich Gottes wird stärker sein, auch wenn es manchmal kaum sichtbar ist und nur in meinem Herzen aufblitzt, wenn ich beispielsweise entscheide, etwas, das der Botschaft Jesu widerspricht, nicht zu tun. Ich glaube, dass diese Treue, die es im Leben immer wieder braucht, uns durch den Glauben als einer tieferen Treue, der Treue zu Gott, gelehrt wird. Wie lernt man denn Treue, Geduld, Durchhalten? Man lernt es im Warten auf etwas Größeres, etwas, das meine Maßstäbe sprengt, so wie ein Kind auf Weihnachten wartet. So lernt man die Treue zu dem, was mir wichtig ist, in der Treue zu dem wahrhaft Größeren, jenen Größeren nennen wir Gott, jene Treue Glauben.

Das Reich Gottes blitzt auf, wo Menschen der Botschaft Jesu folgen. Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme — das sind eben keine Konten, auf die man einzahlt und die so wachsen, die gute Tat muss immer neu geleistet werden. Es gibt aber eine Treue zu meinen Überzeugungen, die mir hilft, das Gute zu tun. Bezüglich des Reiches Gottes ist das die Treue zu Gott, die wir Glauben nennen. Vergessen wir aber nicht: Unsere Treue entspringt einer tieferen: der Treue Gottes zu uns, die er in Jesus endgültig besiegelt hat.