Das Brot, das seit 2000 Jahren nicht ausgeht

17. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Joh 6,1-15)

Es ist wohl der Traum jedes Festveranstalters, dass eine kleine Menge an Speisen ausreicht, um Tausende Festbesucher zu versorgen. Doch der Traum platzt, und schnell ist man wieder in der Wirklichkeit, wo es so etwas nicht gibt, oder? Mit dem Wunder von der Brotvermehrung scheint es in den Augen vieler ein bisschen so zu sein wie mit dem Glauben selbst: ein leeres Versprechen, das der Wirklichkeit nicht standhält. Auch im Glauben wird uns eine Fülle versprochen, von der oft nichts zu erfahren ist. Ein wenig zugespitzt gefragt: ist der Glaube an Gott etwa auch nur ein Märchen wie die Brotvermehrung?

So sehr man sich gelegentlich über das Leben ärgert, ja wütend und verletzt ist angesichts mancher Enttäuschungen, die das Leben bereit hält, so sehr man dann auch vom Glauben enttäuscht ist, weil er nichts einfach ändert, so wahr ist doch auch, dass es andere Momente gibt, Momente des Glücks, der Zufriedenheit, der Ruhe, Momente, in denen man etwas von einer großen Fülle ahnt, die einlädt, aus ihr zu schöpfen. Es sind nicht nur Erfahrungen der Zufriedenheit, in denen diese Fülle geahnt wird, es können auch aufregende, kreative sein, in denen man eine neue Idee entdeckt oder endlich den Schritt zur Versöhnung wagt. Gemeinsam ist diesen Erfahrungen die Wahrnehmung einer Fülle, die sich auftut, die gute Idee eingibt oder den Mut zur Versöhnung. Diese Erfahrung der Fülle ist — wie für die Menschen bei der Brotvermehrung — die Ahnung eines Größeren, Nährenden, Schenkenden, kurz gesagt: die Ahnung des lebendigen Gottes. Allerdings sind diese Augenblicke meist kurz, manchmal zu kurz, um wirklich wahrgenommen zu werden in unserer sich so schnell bewegenden Welt. Offenbar ist es gerade auch das Getrieben-Sein unserer Zeit, das uns von der Fülle trennt, das uns zur nächsten Erfahrung, zum nächsten Hype rennen lässt und so manche leise Ahnung einfach überrennt. Wohlgemerkt, ich will hier gar keine Schuld zuweisen, nach dem Motto „Böse Menschen unserer Zeit fragen nicht nach Gott“, solche Schlagworte helfen nicht, sie schlagen einfach nur. Ich will lieber zum Nachdenken anregen. Heute haben die meisten Menschen eine kritische Haltung zum Glauben, das ist grundsätzlich nicht Schlechtes, denn „kritisch“ heißt eigentlich „genau unterscheiden, überprüfen“. Doch es wäre sinnvoll, dann auch mal die eigene kritische Haltung kritisch zu überprüfen, ob man sich so nicht den Zugang zu etwas Kostbarem verbaut.

Das Getrieben-Sein unserer Zeit treibt uns weg von der Fülle, die sich auftut, die schenkt, die eingibt. Es liegt jedoch nicht nur an uns, dass diese Fülle sich entzieht, dass sie sich nicht immer öffnet, wenn wir das wollen. Es ist klar, dass der Mensch — wenn er etwas von der Fülle erfährt — diese immer zur Hand haben möchte. Als die Menschen das Wunder der Brotvermehrung erleben, möchten sie Jesus bei sich behalten, er geht davon aus, dass sie ihn zum König machen wollen, so nehmen sie ihn in die Pflicht. Brotvermehrung auf Bestellung, das lässt er nicht mit sich machen, er entzieht sich. Wo wir die gelegentlich erfahrene oder eher geahnte Fülle in Beschlag nehmen wollen, da entzieht sie sich. Das zeigt: Hier ist nicht einfach eine Kraftquelle, eine Energie, die es anzuzapfen gilt, sondern hier ist ein Jemand, der nicht einfach genutzt werden kann, sondern der sich schenken, der begegnen kann: der lebendige Gott selbst.

Wenn wir unser Leben betrachten, dann entdecken wir Erfahrungen einer Fülle, die sich auftut, die schenkt: kostbare Augenblicke, gute Ideen, Mut zur Versöhnung usw., eine Fülle, die sich auftut, die schenkt — aber sich nicht gebrauchen lässt: so begegnet uns der lebendige Gott selbst. Es geht nicht darum, dass Gott ein alter Mann mit weißem Bart ist — oder politisch korrekt: auch keine alte Frau mit oder ohne weißen Bart —, sondern ein Jemand, der einen Willen hat, der begegnen kann, der sich nicht einfach „handhaben“ lässt. Deshalb gibt es auch nicht einfach nur das Göttliche oder eine göttliche Energie, sondern den lebendigen Gott selbst. Diese Erfahrungen der Fülle sind es doch gerade, die das Leben reich machen, die unser Herz und unseren Geist entzünden. Woran sich Herz und Geist des Menschen entzünden, das ist ein Jemand, nicht einfach etwas. Der Geist des Menschen entzündet sich im Austausch mit einem anderen, an Gedanken, die ein anderer denkt, an Fragen, die ein anderer stellt, das Herz des Menschen entzündet sich an Zuneigung und Zuwendung, an der Begegnung mit einem anderen. Wenn sich Herz und Geist des Menschen an jener Fülle, die sich auftut, entzünden, dann begegnet uns darin der lebendige Gott selbst.

Den Menschen der Brotvermehrung ist diese Fülle in Jesus begegnet, er ist für uns als Glaubende — wenn man so sagen darf — der Ort, an dem die Fülle sich auftun will, an dem uns der lebendige Gott vor allem begegnet. Jesus ist der, der sich in seinem Leben ganz und gar geschenkt hat, sein Leben ganz als Dienst an den Menschen verstanden hat — bis in den Tod. Und dabei nie — nach den Maßstäben dieser Welt — etwas Besonderes war. Begegnet uns die Fülle nicht immer wieder da, wo äußerlich nichts Weltbewegendes geschieht, wo jemand einfach etwas für andere tut?

Wenn wir unser Leben betrachten, dann entdecken wir doch Erfahrungen einer Fülle, die sich auftut, die schenkt: kostbare Augenblicke, gute Ideen, Mut zur Versöhnung usw., eine Fülle, die sich auftut, die schenkt — aber sich nicht benutzen lässt: so begegnet uns der lebendige Gott selbst. An dieser Fülle entzünden sich Herz und Geist des Menschen, so wird das Leben reich und tief. Herz und Geist des Menschen entzünden sich an und in der Begegnung. In dieser Fülle ist nicht einfach ein Es, eine Kraft oder Energie, sondern der lebendige Gott selbst. Wie für die Menschen bei der Brotvermehrung ist für uns Jesus — wenn man so sagen darf — der Ort dieser Begegnung: hier und Jetzt, wenn wir seinem Auftrag folgen und das Brot in der Eucharistie teilen, jenes Brot, das tatsächlich seit 2000 Jahren nicht ausgeht.