Liebe macht blind — sagt der Volksmund. Liebe macht sehend — sagt der Apostel Paulus

2. Adventssonntag (Lesejahr C; Phil 1,4-6.8-11; Lk 3,1-6)

Liebe macht blind — sagt der Volksmund. Liebe macht sehend — sagt der Apostel Paulus. „Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher an Einsicht und jedem Verständnis wird, damit ihr beurteilen könnt, worauf es ankommt“, schreibt er an die christliche Gemeinde von Philippi. Liebe wird in unserer Gesellschaft gern verkitscht, die Hochzeit muss märchenhaft schön werden — auch wenn ein paar Jahre später die Scheidung folgt, Weihnachten ist das wunderschöne Fest der Liebe wie in Kindheitstagen — obwohl man damals genauso gestritten hat wie heute. Gleichzeitig breitet sich immer mehr Unsicherheit aus: Damit ihr entscheiden könnt, worauf es ankommt, sagt Paulus. Worauf kommt es denn an? Das muss jeder selbst wissen, heißt es oft. Das verbirgt nur die Unsicherheit, dass es keiner mehr weiß. Was ist das für eine Liebe, von der Paulus spricht, eine Liebe voller Einsicht, die zu entscheiden hilft?

Die Liebe, von der Paulus spricht, ist ganz offensichtlich mehr als Gefühle. Ich gebe zu, das allein ist noch keine bahnbrechende Erkenntnis. Paulus geht es offenbar noch um etwas Tieferes. Es gibt eine Form des Verstehens und der Einsicht, die nicht ohne ein gewisses Wohlwollen dem anderen gegenüber möglich ist. Ich glaube, diese Erkenntnis lässt sich leicht nachvollziehen. Einmal gerät beispielsweise ein Freund durch eigene Schuld in eine Klemme, und man hilft und rät, wie man kann. Ein andermal ist es jemand, den man nicht leiden kann, der in quasi derselben Klemme steckt, und so denkt man nur: ich weiß auch nicht, was ich tun kann, der Idiot ist selber schuld. Wo es um komplizierte, verwickelte Dinge oder zutiefst menschliche Angelegenheiten geht, hängt Verstehen von einem gewissen Maß an Wohlwollen dem anderen gegenüber ab. Ich muss gedanklich — manchmal auch emotional — die verschlungenen Wege des anderen nachgehen können. Wenn ich immer denke: „Wie blöd, so etwas zu tun!“, blockiert mich das, stoppt mich auf dem Weg des Nachvollziehens und verhindert mein Verstehen. Ist das nicht an vielen Stellen auch das Problem unserer Gesellschaft? Wir driften in verschiedene Richtungen ab, aber man ist immer weniger in der Lage, sich auch nur ansatzweise in den anderen hineinzuversetzen.

Wie soll nun dieses Verstehen gelingen? Wir sehen Menschen in der Regel durch bestimmte Filter. Der andere ist der Postbote, der Pfarrer, der Arbeitskollege. Wenn ich den anderen sehe, erscheint — bildlich gesprochen — dies schon über seinem Kopf, eben wie wenn ich durch einen bestimmten Filter schaue. Das erleichtert uns einerseits das Leben, macht vieles unkomplizierter. Ich muss weder mit dem Postboten noch mit der Kassiererin jedes Mal neu verhandeln, wer sie genau sind und was sie von mir wollen. Je nach den Umständen macht es aber auch das wirkliche Verstehen schwieriger. Wenn ich jemandem einen Rat geben soll, aber auch wenn ich für mich eine Entscheidung treffen muss, geht es immer auch darum andere zu verstehen, da ich ja nie in einem luftleeren Raum bin, sondern immer auf andere bezogen — in welcher Form auch immer. Wenn ich einen anderen verstehen will, muss ich quasi diese Filter beiseite tun. Die Gefahr scheint mir oft zu sein, dass man den anderen entweder überhöht, weil man ihn mag, oder eben von Anfang an — bewusst oder unbewusst — schon verurteilt, weil man ihn nicht mag. Das Wohlwollen, das Verstehen ermöglicht, ist etwas anderes. Es geht nicht darum den anderen in ein gutes oder schlechtes Licht zu rücken, sondern ihn überhaupt ins Licht zu stellen. Es versucht die Filter beiseite zu tun und den anderen einfach zu sehen — ohne Überhöhung, ohne vorschnelles Urteil. Ich glaube, das berührt sich auch mit dem, was Johannes der Täufer als Umkehr verkündet, man könnte das altgriechische Wort, das hier im Original des Lukas-Evangeliums verwendet wird, auch mit „Neubesinnung“ oder „neuem Denken“ übersetzen. Eine solche Neubesinnung braucht es, wenn ich den anderen ohne Filter einfach ins Licht stellen soll, um ihn als Mensch mit Stärken und Schwächen zu sehen. Daran kann sich so etwas wie Mitgefühl und Wohlwollen entwickeln — weil auch ich ein Mensch mit Stärken und Schwächen bin. So wächst Verstehen.

Die Filter, durch die ich den anderen sehe, wegzutun, ihn ins Licht zu stellen — das lehrt mich auch der Glaube an Gott, nicht einfach in dem Sinne, dass Gott das vorschreibt, sondern ich erfahre im Glauben, dass es am besten ist von Gott, so wie ich bin, gesehen zu werden. Wir Menschen haben ja die Neigung, uns im besten Licht zu zeigen, das ist nachvollziehbar und wohl auch erforderlich, z.B. wenn man sich um eine Stelle bewirbt. In der Beziehung zu Gott ist das hinderlich. Es blockiert die Beziehung, weil es nicht funktioniert. Gott ist mir innerlicher als ich es selbst bin, sagte der heilige Augustinus. Im Glauben lerne ich, dass dies nichts Beängstigendes ist, sondern der tiefste Grund seiner Liebe: er liebt mich, w e i l er mich sieht, wie ich bin. Das heißt nicht, dass immer alles gut ist, was ich tue, aber er traut mir zu, es besser zu machen, eben weil er auch um meine Stärken weiß, er gibt immer eine neue Chance. So lerne ich, dass Wohlwollen gerade dann entsteht, wenn ich den anderen einfach sehe, wie er ist — ohne Überhöhung, ohne vorschnelles Urteil.

Eine Liebe, die reich an Einsicht ist, die hilft zu entscheiden, meint also letztlich ein Wohlwollen, ohne dass es Verstehen in verwickelten und zutiefst menschlichen Zusammenhängen nicht gibt. Ich muss gedanklich — manchmal auch emotional — die verschlungenen Wege des anderen nachgehen können, wenn ich immer denke: „Wie blöd, so etwas zu tun!“, stoppt mich das auf dem Weg des Nachvollziehens und verhindert mein Verstehen. Es geht nicht darum, den anderen in ein gutes oder schlechtes Licht zu rücken, sondern ihn überhaupt ins Licht zu stellen, ihn ohne die Filter des Alltags zu sehen. Das lehrt mich auch der Glaube. Gott liebt mich, weil er mich so sieht, wie ich bin. So wächst Verstehen.