Die scheinbar „langweiligen“ Inhalte des Glaubens sind es, die uns zu Gott führen

4. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Mk 1, 21-28)

Menschen unserer Zeit suchen offenbar vor allen Dingen tiefe, emotionale, vielleicht auch erschütternde Erfahrungen — auch im Bereich der Religion, wenn der für sie überhaupt noch eine Rolle spielen soll. Das Christentum wirkt da auf viele verstaubt, langweilig und mit Inhalten überfrachtet, die die meisten nicht interessieren. Ganz anders das heutige Evangelium: Jesus wird als mächtig in Wort und Tat erlebt, als einer, der befreien kann. Heutzutage wird ja viel über die geschichtliche Zuverlässigkeit der Bibel gestritten, dass Jesus von Nazareth als einer erlebt wurde, der Menschen von ihren inneren Lasten befreit hat, wird jedoch kaum bezweifelt. Wo und wie kann nun der christliche Glaube als befreiend erlebt werden — ganz konkret für mich?

Es bleibt mir nichts anderes übrig — so jedenfalls meine Überzeugung —, als an dieser Stelle ein bisschen Spielverderber zu sein. Die Erfahrung, dass mein Glaube — oder eben genauer und besser gesagt: die Nähe Gottes befreiend wirkt, ist ein Geschenk und nicht machbar, nicht durch Frömmigkeit, nicht durch Gebet, nicht durch besonders charismatisch auftretende Personen. Sie ist ein Geschenk — und im Wesen des wahren Geschenks liegt, dass es freiwillig und nicht verfügbar ist. Das sagt uns die Vernunft, Gott kann nicht zum Befreiungsautomaten für mich werden, dann wäre er nicht Gott, das sagt uns aber auch die Heilige Schrift an vielen Stellen: Jesu Heilungen sind unverfügbares Geschenk. An einer Stelle leitet einmal ein Mann, der Heilung sucht, seine Bitte mit den Worten ein: „Wenn du willst." Jesu Heilungen sind nicht Automatismus, sie sind nicht Recht des Menschen, der von Gott etwas zu verlangen hat, sie sind — wie die Evangelien sagen — Zeichen, Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft, die in Jesus beginnt. „Da steh’ ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor!“, könnte man mit Goethes Faust sagen, aber ganz so ist es nicht. Es ist Gottes Nähe, die befreit, und nicht mein Glaube, und diese Nähe kann ich nicht „machen“, aber ich kann sozusagen nach den Bedingungen suchen, ich kann ihn einladen, so wie die Heilungsbedürftigen Jesu Nähe gesucht haben.

Schauen wir uns also die Szenerie des heutigen Evangeliums genauer an. Es ist nicht so, dass Jesus die Kranken ruft, um sie zu heilen, sondern — das könnte man leicht übersehen —, es handelt sich um einen ganz gewöhnlichen Gottesdienst am wöchentlichen Feiertag der Juden, dem Sabbat. Und was tut Jesus? Das, was ganz selbstverständlich bis heute zum Synagogengottesdienst und in seinem Gefolge auch zum christlichen Gottesdienst gehört: er lehrt, er predigt. Der Evangelist Markus überliefert uns an dieser Stelle nicht, was Jesus lehrt. Das finde ich persönlich zwar bedauerlich, aber in diesem Zusammenhang geht es Markus offenbar eher um die Wirkung der Predigt Jesu. Die Menschen sind von seiner Lehre betroffen, sie erkennen darin eine göttliche Vollmacht, erst aus dieser Erfahrung, dieser Betroffenheit heraus, entwickelt sich die Heilung des Mannes. Und auch nach der Heilung sprechen die Menschen zuerst davon, dass Jesus „eine ganz neue Lehre“ verkündet hat, erst dann findet die Heilung Erwähnung. Was folgt daraus für uns? Es gibt im christlichen Glauben nicht die Befreiung, die große Emotion, die mich erschüttert — ohne den Inhalt. Ein bisschen vereinfacht auf unsere Situation übertragen: Die ganze Szene spielt sich im normalen Sonntagsgottesdienst ab. Emotionen ohne besonderen, spezifischen Inhalt mögen erschüttern, aber sie ähneln wohl eher einem Drogenrausch. Die Nähe Gottes suchen, um seine befreiende Kraft zu erfahren, das geht nur über die Inhalte des christlichen Glaubens. Sie sind es, die mir sagen, dass ich Gott nicht gleichgültig bin, dass ich an einen Gott glaube, der dreifaltig ist, der also in sich schon Gemeinschaft, Liebe und Freiheit und damit deren Urbild überhaupt ist. Die scheinbar „langweiligen“ Inhalte des Glaubens sind es, die uns zu Gott führen.

Diese unverfügbare, befreiende Kraft der Nähe Gottes zeigt sich immer wieder auch da, wo ich sie nicht erwarte. Meist ist es ja so, dass man bestimmte Vorstellungen hat, wie und wo man befreit werden möchte. Doch so einfach ist es mit Gott nicht, unverfügbare Nähe Gottes heißt eben auch, dass ich mir Befreiung sozusagen gefallen lassen muss, wo er sie wirkt, vielleicht nicht da, wo ich sie haben möchte. Der Heilungsbedürftige im Evangelium ist auch kein mündiger Patient unserer Zeit, der genau anzeigt, wo es wehtut. Vielleicht ist es manchmal so, dass ich irgendeine Aufgabe vor mir habe, ein Gespräch mit einem Vorgesetzten vielleicht, wovon ich gern befreit wäre, während eine bestimmte Freundschaft mir viel bedeutet — obwohl ich gerade da Befreiung nötig hätte, weil ich in Wirklichkeit nur ausgenutzt werde. Manches Neue empfindet man möglicherweise als spannend, als fesselnd — das ist es unter Umständen auch, aber nicht im guten Sinne, sondern es fesselt und macht unfrei. Wenn Gott befreit, befreit er da, wo er will — nicht unbedingt, wo es mir gefällt.

Wir schätzen Freiheit ja sehr hoch in unserer Zeit, aber wir übersehen, dass Freiheit für uns Menschen nie einfach eigene Leistung, sondern immer Befreiung ist, Befreiung durch den Größeren, durch Gott. Man sagt ja gelegentlich, dass man befreit aufatmet, oder man hört den Ruf der Freiheit. In solchen Redensarten ist die tiefe Ahnung gespeichert, dass wir Menschen Freiheit nicht machen — auch wenn wir das gern hätten —, sie ist Geschenk Gottes.

Wenn Menschen heute überhaupt noch etwas mit Religion zu tun haben wollen, suchen sie oft die befreiende Wirkung des Glaubens. Es ist aber nicht einfach mein Glaube, der befreit — sonst wäre es eigene Leistung, nicht Befreiung —, sondern die Nähe Gottes, die immer Geschenk ist. Wenn ich nun nach dem Vorbild der Evangelien diese Nähe Gottes in Jesus suche, entdecke ich, dass dies über die Inhalte des Glaubens geht. Die befreiende Tat Jesu geht aus der Erschütterung über seine Lehre hervor. Die scheinbar „langweiligen“ Inhalte des Glaubens sind es, die uns zu Gott führen. Diese Befreiung spielt sich nicht unbedingt da ab, wo ich sie gern hätte, wo ich vielleicht mir Unangenehmes loswerden will. Wenn Gott befreit, befreit er da, wo er will — vielleicht sogar im normalen Sonntagsgottesdienst.