Mitfühlend-begleitende oder lehrende Kirche?

29. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Hebr 4,14-16; Mk 10,35-45)

Heutzutage gibt es vor allem eine Erwartung an die Kirche — so jedenfalls meine Erfahrung: sie soll mitfühlend sein, in Lebenskrisen beistehen, sie soll eher wie ein Therapeut begleiten, also einer, der keine Vorgaben macht, sondern das Eigene im anderen wecken will. Auf den ersten Blick scheinen die biblischen Texte des Neuen Testaments, die wir gehört haben, dies zu bestätigen. Jesus verlangt von seinen Jüngern, dass sie den Menschen dienen, und im Hebräerbrief heißt es ausdrücklich, dass wir an Jesus glauben, der mit unserer Schwäche mitfühlen kann. Doch genauer betrachtet ist das, was wir da hören, eben doch eine bestimmte Lehre. Der Autor des Hebräerbriefs will deutlich machen, also lehren, dass Heil allein von Jesus zu erwarten ist, „lasst uns an diesem Bekenntnis festhalten“, sagt er. Und auch Jesus lehrt seine Jünger über das Wesen des Dienens und des Jünger-Seins— wie er sie an vielen anderen Stellen der Evangelien lehrt. Was müssen wir nun eher sein: mitfühlende, begleitende Kirche oder doch eher lehrende Kirche?

Die Erwartung der Menschen ist — wie gesagt — klar: wenn man überhaupt noch etwas von uns erwartet, dann sollen wir eine mitfühlende, begleitende Kirche sein, keine lehrende. Ich wage zu behaupten, dass das so gar nicht geht, weil diese Alternative unsinnig ist. Es gibt keine vollständig inhaltslose, vollkommen neutrale Begleitung. Ich weiß, dass es zum Ideal des Therapeuten gehört, eigene Überzeugungen rauszuhalten, sozusagen eher Geburtshelfer dessen zu sein, was sich im Patienten selbst ereignet. Doch auch in einer solchen Beziehung gibt es — so meine Wahrnehmung und Überzeugung — keine vollständig inhaltlose Begleitung. Auch der Therapeut gibt etwas von sich in seine Begegnung: mindestens seine Erfahrung und seine Fähigkeit zuzuhören, die ihn sensibler machen für das, was er zu hören bekommt. Deshalb haben unterschiedliche Therapeuten unterschiedliche Ansätze und empfehlen unterschiedliche Wege. Auch eine solche professionelle therapeutische Begleitung ist also nie vollständig neutral. Sie ist geprägt von bestimmten Methoden, Erfahrungen und Persönlichkeitsmerkmalen.

Was hier gilt, gilt umso mehr für die Begleitung im Bereich der Kirche, denn diese kann von ihrem Verständnis her nie einfach eine — in diesem Sinne — professionelle Begleitung sein. Im Bereich der Religion geht es nie nur um einen bestimmten Bereich des Lebens, eine Angst beispielsweise, die man überwinden will, es geht immer um den ganzen Menschen. Es geht deshalb nicht um eine Begleitung, wie sie ein Therapeut anbietet, sondern um eine existenzielle Begleitung, eine Begleitung, die den ganzen Menschen einschließt — das gilt sowohl für den, der begleitet, als auch für den, der begleitet wird. Diese Begleitung ähnelt also eher einer Freundschaft, hier kommt es nicht auf Professionalität oder Distanz an, sondern . . . ja, auf was eigentlich? Was gibt mir ein Freund, der mir beisteht — nicht nur in den schweren Tagen? Er gibt Zeit, Aufmerksamkeit, Nähe, er lacht mit mir oder weint mit mir — oder ist zumindest traurig mit mir, denn Männer weinen ja bekanntlich nicht. Ein Freund begleitet eben nicht neutral, er gibt letztlich sich hinein, im Ernstfall konfrontiert er mich auch mit dem, was ich nicht hören will, nicht weil das für ihn eine therapeutische Methode ist, sondern weil er als echter Freund nicht anders kann, weil er eben nicht neutral ist, sondern mein Freund — mit seiner Prägung, seiner Geschichte und seinen Überzeugungen.

Eine existenzielle Begleitung, eine Begleitung, die den ganzen Menschen einschließt — und nur darum geht es im Bereich der Religion — ist nie einfach neutrale, inhaltsleere Begleitung, in ihr kommt der ganze Mensch vor: mit seinen Prägungen und Überzeugungen.

Ich will aber noch einen Schritt weitergehen. Was ist das, was der Mensch in eine solche Begleitung gibt? Seine Nähe, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit. Die Erfahrung lehrt: Es muss mehr sein als das. Es ist nicht so, dass ich quasi mechanisch aus meinem Zeitpaket etwas rausschneide, das ich dann dem anderen überlasse. Es scheint mir viel eher so zu sein, dass wir gemeinsam in eine größere Nähe eintreten, die uns beide umfasst und Heilung oder wenigstens Linderung schenkt. Ist es nicht auch manchmal so, dass man sich wundert wie viel Linderung oder gar Heilung das Bisschen, was ich zu geben habe, schenken kann? Das ist auch ein Fingerzeig, dass es nicht nur um mich geht. Was ich in eine Begleitung gebe, das bin nicht nur ich, ein Größerer umfasst uns — der, den wir als Glaubende Gott nennen.

Wo führt uns diese Erkenntnis hin? Sollen wir nun eher mitfühlende oder lehrende Kirche sein? Das bisher Bedachte zeigt hoffentlich, dass diese Alternative letztlich unsinnig ist. Gewiss, das muss uns als Kirche klar sein: niemand will sich heute mehr belehren lassen, im Sinne von: ich weiß alles besser und nun sage ich dir, wo es langgeht. Unsere eigenen Fehler und Sünden werfen uns von diesem hohen Ross. Wenn wir die Evangelien betrachten, fällt auf, dass es darum auch gar nicht geht. Es gibt nunmal keine inhaltsleere, vollkommen neutrale Begleitung, nicht in einer therapeutischen Begleitung, aber besonders da nicht, wo es um eine existenzielle Begleitung geht, wo es also um den ganzen Menschen geht. Ich gebe meine Zeit, meine Nähe, meine Überzeugungen in die Begleitung hinein. Ich gebe nicht mechanisch einen Besitz weiter, ich gebe mich hinein, und wir treten in die Nähe des Größeren, den wir Gott nennen. Das ist es, was der Autor des Hebräerbriefs sagen will: Wir haben einen Gott, der mitfühlen kann, weil er in Jesus Mensch geworden ist, niemand sonst verkündet dies — das gilt bis heute. Wir glauben und bekennen, dass Gottes Nähe letztlich vollenden kann, was diese Welt immer offen lassen muss, was manchmal auch schmerzlich offen bleibt. Das ist unsere Lehre, das ist es, was wir als Glaubende in die Begleitung des anderen hineingeben.

Indem wir an diesem Bekenntnis festhalten, sind wir mitfühlende und begleitende Kirche — auch in unserer Schuld und Gebrochenheit, denn es kommt auf den Herrn an, nicht auf uns. Möge er uns seinen Geist geben, dass wir auch heute seinen Auftrag erfüllen.