Jesus platzt der Kragen — wegen der Frage nach Gott

3. Fastensonntag (Lesejahr B; Ex 20,1-3.7-8.12-17; Joh 2,13-25)

Es ist doch mehr als verständlich, dass auch Jesus einmal der Kragen platzt. Das macht ihn in gewisser Weise menschlich, bringt ihn uns näher. Was hat er nicht alles sehen müssen! Arme, Kranke, Aussätzige, sie alle kommen zu ihm, weil die Gesellschaft sie ausschließt, verachtet. Es ist nicht überraschend, dass Jesus über solche Zustände die Wut packt, und er . . . Moment mal, schauen wir das Evangelium nochmal in Ruhe an. Es sind gar nicht soziale Missstände, die den Wutausbruch Jesu verursachen, es ist die Art und Weise, wie der Tempel und sein Gottesdienst organisiert sind. Es geht Jesus in seinem einzigen überlieferten Wutausbruch darum, dass Gott in richtiger Weise angebetet wird. Ach was, darüber kann man sich aufregen — denkt wohl der Mensch unserer Zeit. Ist es wirklich so, dass Gott einen entscheidenden Platz im Leben des Menschen haben sollte?

Ich glaube, dass wir hier beim Grundproblem sind, dass die Kirche in unserer Zeit hat — es sind nicht die gewiss vorhandenen Fehler der Kirche. Jemand hat das einmal so formuliert: die Menschen haben inzwischen schon vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Auch die Zehn Gebote, die wir in der Lesung aus dem Buch Exodus gehört haben, setzen die Gottesbeziehung an die erste Stelle. Das erste Gebot heißt: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Es ist eine Selbsttäuschung des Menschen, dass er glaubt, ohne Götter leben zu können. Er nennt sie heute vielleicht anders. Wer Gott aus seinem Leben streicht, verfällt anderen Göttern — gleichgültig, ob sie Konsum, Karriere oder Freizeit heißen. Der Mensch ist zu schwach, um allein aus eigenen Kräften leben zu können. Wie viele Pläne schmieden wir und müssen doch zugeben, dass es ganz anders gekommen ist. Und wie zerbrechlich ist doch das Leben, wer einmal einen lieben Menschen verloren hat oder in dieser Gefahr war, erfährt das auf bittere Weise. Ein Wort, das man heute gelegentlich hören kann, heißt: ich muss wieder auftanken. Für den einen heißt das Faulenzen, für den anderen Wellness-Urlaub oder was auch immer. Sprache ist verräterisch. Auftanken — das heißt, ich kann nicht nur aus eigenen Quellen leben, wie mein Auto brauche ich eine andere Quelle, Kraftstoff, den ich nicht selbst hervorbringen kann. Der Mensch ist zu schwach, um aus eigenen Kräften zu leben. Wenn er Gott aus seinem Leben streicht, braucht er andere Götter, aber die laugen ihn aus, stumpfen ihn ab. Wo das Leben zerbrechlich wird, bleiben diese Götter stumm. Der Mensch hat viele Möglichkeiten, das zeigt die Geschichte, große Möglichkeiten, es gab und gibt Menschen, die ihr Leben für andere geben oder dem Dienst an anderen gewidmet haben, ich denke an Martin Luther King oder Mutter Teresa. Aber es gibt im Menschen auch die andere Seite, Millionen Tote, die zwei Weltkriege, aber auch politische Gewalt hervorgebracht haben, legen Zeugnis dafür ab. Im Menschen ist offenbar das Große, aber auch das Kleine, Niedrige, Brutale. Der Mensch kann nicht aus eigener Kraft leben, er braucht den, der ihn hochzieht, der ihm die Kraft zum Großen gibt. Auch hier ist die Sprache verräterisch, sagt man nicht, der ist über sich hinausgewachsen, wenn einer wirklich Großes schafft?

Und doch zögert der Mensch unserer Zeit, er liebt seine Freiheit zu sehr, als dass er sich Geboten unterwirft. Hole ich mir mit diesem Gott und seinen Zehn Geboten nicht einen fremden Herrscher ins Haus? Der Gott, der uns in Jesus begegnet, ist anders, der umherziehende Wanderprediger aus Nazareth ist wohl kaum ein Diktator. Aber es bleiben doch die Gebote? Ja, sie bleiben, aber hat nicht jede Freundschaft ihre Gebote? Du sollst Zeit für mich haben, auch wenn es dir mal nicht passt. Du sollst mir helfen, wenn ich Hilfe brauche — vor allem dann, wenn alle anderen sagen: „Nein, danke" — usw. Wer will bestreiten, dass diese Gebote in einer Freundschaft gelten? Und doch wäre es seltsam, wenn ich eine Freundschaft zuerst als Erfüllung solcher Gebote verstehe. Das ist eine Perspektive, aber nicht die wichtigste. Ja, wenn ich solche Gebote im Vordergrund sehe, ist die Freundschaft eigentlich schon tot. So ist es auch mit Gott. Ja, die Gebote gelten, sie sind ein Blickwinkel auf die Gottesbeziehung, aber wenn sie der entscheidende sind, ist es eigentlich schon vorbei.

Dass der Mensch zu schwach ist, um aus eigenen Kräften zu leben, zeigt uns das Leben immer wieder, wir müssen neu planen, uns umstellen, weil es nicht so läuft, wie wir denken, spätestens der Tod führt uns vor Augen, dass wir unser Leben nicht selbst in der Hand haben. Doch vielleicht gerade deshalb möchte der Mensch die Entscheidungen, die er selbst treffen kann, nicht aus der Hand geben. Hier an dieser Wegkreuzung kann ich tatsächlich entscheiden, muss nicht einfach alles den Gegebenheiten des Lebens überlassen, da will ich keinen Gott, der mir was vorschreibt. Doch darum geht es auch nicht. Es kommt keine Hand von oben, die mich zwingt. Im Gegenteil: Gott gibt mir die Freiheit und die Macht. Doch mit der Macht kommt auch die Verantwortung. Wer wollte bestreiten, dass ohne Verantwortung das Leben nicht gelingt? Verantwortung — das meint die Pflicht zu antworten, Gott zu antworten, ihm Rechenschaft zu geben, warum ich so entscheide, diesen Weg und keinen anderen gehe und zu zeigen, dass ich nicht hirn- und grundlos handle, sondern vernünftig und einsichtig. Ohne Gott schmilzt diese Verantwortung dahin, denn wem sollte ich  — im tiefsten und letzten Sinne — dann noch eine Antwort schuldig sein?

Der Mensch verliert nicht, wenn er Gott ihn sein Leben holt, er gewinnt alles. Der Mensch ist zu schwach, um aus eigenen Kräften zu leben. Wenn er Gott streicht, verfällt er anderen Göttern, die bleiben aber stumm, wenn das Leben zerbrechlich wird. Gott nimmt nicht Macht, sondern gibt sie — und mit ihr kommt Verantwortung. Verantwortung heißt, Gott zu antworten, heißt, zu zeigen, dass ich vernünftig und einsichtig zu handle. Mit Gott verliere ich nicht, sondern gewinne.