Das Leben verstehen: Vier Augen sehen mehr als zwei

30. Sonntag im Jahreskreis (Weltmissionssonntag; Lesejahr B; Mk 10,46-52)

Man hat sich gemüht ein anderes Wort zu finden: Evangelisierung — vielleicht sogar Neuevangelisierung —, Weitergabe des Glaubens oder Ähnliches, weil das ursprüngliche Wort „Mission“ für viele heute zu anstößig ist. Manches taucht da gleich auf: gewaltsame Mission mit dem Schwert, anderen den eigenen Glauben aufnötigen, intolerant sein — und was unsere Gesellschaft noch für Vergehen kennt. Und doch begehen wir heute den Weltmissionssonntag, der uns daran erinnert, dass Mission mitten hinein ins Evangelium und damit auch in unseren Glauben gehört. Mission heißt Sendung, und Jesus sendet immer wieder seine Jünger, das Evangelium zu verkünden. Was also heißt Mission für uns heute?

Das Evangelium dieses Sonntags ist letztlich weniger eine Heilungsgeschichte, sondern viel eher erzählt sie, wie Bartimäus zum Jünger Jesu wird: „Und er folgte Jesus auf seinem Weg“, das ist der letzte Satz und das Ziel der Geschichte. Bartimäus hat es nicht leicht, er muss sich durchkämpfen zu Jesus — und der stellt ihm die entscheidende Frage: „Was soll ich dir tun?“ Diese Frage ist für mich auch ein Anstoß im Blick auf das Thema Mission: was soll der Herr uns tun, was sollen wir eigentlich? Wollen wir Weitergabe des Glaubens, wollen wir, dass andere Menschen Christen werden — oder ist uns das heutzutage zu peinlich, weil wir auch meinen, dass jeder einfach glauben soll, was er will? Wollen wir eher, dass möglichst alles so bleibt, wie es ist — oder am besten wieder wird wie früher? Geht es uns vielleicht eher um eine bestimmte Gestalt von Kirche, die uns eben vertraut ist? Mein Eindruck ist, dass viele die Kirche eher als eine Art Werte-Lieferant, als Kultur-Pflege-Anstalt sehen. Man muss die Kirchen als prägende Bauten in dieser schönen Landschaft erhalten. Das wird so nicht funktionieren. Es braucht Menschen wie Bartimäus, die Jesus nachfolgen, sich als Christen verstehen. Die Frage Jesu bleibt: Was soll ich dir tun? Letztlich kann sie nur jeder für sich beantworten.

„Ich möchte wieder sehen können“. Für Bartimäus war dieser Wunsch — im wahrsten Sinne des Wortes — der Beweggrund, der ihn zu Jesus führt. Ich glaube, das könnte er — in gewissem Sinne — auch heute sein. Ich will sehen, das kann auch heißen: ich will das Leben verstehen, deuten, damit umgehen können — und manchmal vielleicht auch einfach: es aushalten können. Glauben ist eine Weise, das Leben zu deuten und auszuhalten. Ich sehe die Sehnsucht des Menschen nach Leben und Liebe ohne Grenzen und Lasten, und ich sehe, wie nichts in der Welt sie erfüllen kann, und ich frage mich, woher sie kommt, da doch nichts in der Welt unvergänglich und ohne Lasten und Grenzen ist. Der Glaube hilft mir zu sehen, was ohne ihn nicht zu sehen ist: der Mensch ist Gottes Ebenbild, daher stammt seine Sehnsucht, die in dieser Welt nicht zu erfüllen ist. Ich will sehen — das kann auch heute ein Beweggrund für den Glauben sein, und es kann eine Einladung zum Glauben sein. Mission heißt nicht: friss oder stirb, nimm gefälligst meinen Glauben an. Sondern: ich will sehen, hilf mir zu sehen, geh mit mir, vier Augen sehen mehr als zwei. Die Geschichte des Glaubens ist voll von Menschen, die den Glauben bereichert haben — durch ihr Denken, ihr Leben und Handeln. Wir alle können solche Menschen sein: durch jeden Menschen, der mit seiner Prägung, seiner Sicht versucht den Glauben zu leben, kommen wir dem Beispiel Jesu näher, sehen wir, verstehen wir das Leben besser — oder manchmal können wir es auch einfach gemeinsam besser aushalten.

Braucht es dazu aber wirklich einen Glauben? Jeder muss mit dem Leben irgendwie fertig werden, ob er glaubt oder nicht. Ist es da nicht besser, als sozusagen ein festes Glaubens-Schema über die Fragen des Lebens zu legen, einfach immer neu zu schauen, was passt. Manchmal hilft diese Deutung des Lebens, manchmal eine andere — und manchmal muss man von vorn beginnen, weil das Leben die eigenen Deutungen zerbrochen hat. So sehen das heute wohl die meisten Menschen Aber ich halte das für ein mehrfaches Missverständnis. Der Glaube ist eben kein fertiges Schema, das ich irgendwo drüber legen kann. Er meint zunächst ein Mit-Gehen mit Jesus — man denke an Bartimäus — und ein Lernen von ihm und den anderen, die mit mir und Jesus auf dem Weg sind. Die Vorstellung, ich habe halt ständig neue offene Ansichten und Deutungen, die ich dem Leben anpasse, ist letztlich der Naturwissenschaft entnommen. Man macht eine Annahme, die dann durch ein Experiment bestätigt oder widerlegt wird. So funktioniert das Leben aber nicht. Um es mit einem Bild zu sagen: Wenn ich in einem Zug sitze oder Beifahrer eines schnellen Autofahrers bin, rauscht die Landschaft an mir vorbei, ich kann sie gar nicht richtig betrachten. Nur wenn ich einen festen Standpunkt habe, kann ich wirklich sehen, was um mich herum ist. So ist es auch im Leben. Ständig neue Annahmen über das Leben zu machen, funktioniert nicht gut, weil es nicht um ein Experiment geht, sondern um mein Leben. Ein wenig dramatisch formuliert: es geht wirklich um Leben und Tod. Ich brauche einen Standpunkt, den ich einnehme, eine Haltung, die mir etwas bedeutet — und nicht nur eine neutrale, unbestimmte Annahme —, eben weil es um nichts Neutrales, sondern um das Unmittelbarste und Persönlichste schlechthin geht: mein Leben. Wenn ich solche Standpunkte ständig wechsle, werde ich verschleißen und Schaden nehmen. Der Glaube kann und will ein fester Standpunkt, eine klare Haltung sein, um mein Leben zu bewältigen.

Weitergabe des Glaubens, Mission, das sind heute schwierige Themen — aber letztlich geht es um den Glauben selbst, was er uns, was er anderen bedeuten kann. Ich will sehen, sagt Bartimäus. Glauben heißt mit Jesus zu gehen, von ihm und anderen, die mit auf dem Weg sind, zu lernen, und so auch das Leben zu verstehen und manchmal auszuhalten. Mission heißt dann: hilf mir zu sehen, geh mit mir, vier Augen sehen mehr als zwei. Ich brauche dazu einen Standpunkt, eine Haltung, — und nicht nur eine neutrale, unbestimmte Annahme —, eben weil es um nichts Neutrales, sondern um das Unmittelbarste und Persönlichste schlechthin geht: mein Leben. Der Glaube kann und will ein solcher Standpunkt , eine solche Haltung sein, um mein Leben zu bewältigen.