Ohne Gottes- keine Nächstenliebe

31. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Mk 12,28b-34)

Die meisten Menschen erkennen Nächstenliebe als eine wichtige Botschaft des Christentums an, vielleicht sogar schon als Hinterlassenschaft. Man winkt dem langsam verschwindenden christlichen Glauben — möglicherweise sogar ein bisschen sentimental — nach, immerhin bleibt uns das Wichtigste: die Nächstenliebe. Geht man jedoch zurück zur Quelle, bietet sich ein anderes Bild. Jesus spricht keineswegs nur von der Nächstenliebe; er kennt nur ein Doppelgebot: das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Gottesliebe? Was soll das bitte schön sein? Wozu soll man Gott lieben?

Die Vorstellung Gott zu lieben ist vielen Menschen heutzutage ganz offenkundig aus mehreren Gründen fremd. Wer soll Gott überhaupt sein, gibt es denn den? Und wenn es ihn gibt, wie soll man ihn lieben? Doch das ist mit der Nächstenliebe auch nicht so einfach. In unserer Zeit ist manchmal die in den Medien gezeigte Not uns näher als die versteckte ein paar Häuser weiter. Man ist vielleicht bereit zu helfen — aber lieben ist doch ein großes Wort, egal ob der, dem ich helfen will, im Haus nebenan oder weit weg wohnt. Zunächst sollte mit einem Missverständnis aufgeräumt werden. Die altgriechische Sprache, in der das Neue Testament geschrieben ist, ist reicher als unsere deutsche, sie kennt mehrere Worte für „lieben“. Das Wort, das hier verwendet wird, meint keine emotionale Beziehung, keine Freundschaft, sondern eher Hilfsbereitschaft, Zuwendung, Interesse zeigen.

Versuchen wir so einmal von der Nächstenliebe her zu denken, sie ist ja allgemein anerkannt — zumindest in der Theorie — und sehen dann, ob es eine Brücke zur Gottesliebe gibt. Das liegt schließlich nahe, da Jesus sie im Evangelium so klar verschränkt. Warum also soll man dem Nächsten hilfsbereit zur Seite stehen? Ich glaube, es gibt zwei Hauptargumente, ein edles und ein eher praktisches. Das edle lautet: Zum Menschsein gehört auch Mitmenschlichkeit, Mitgefühl. Es ist ein ganz unmittelbar menschlicher Impuls, dem Schwachen zu helfen, man fühlt sich ihm nahe, verbunden. Das weniger edle, eher praktische Argument heißt: So funktioniert das Miteinander in einer Gesellschaft, auf das wir alle irgendwie angewiesen sind. In irgendeiner Weise bin auch ich mal der, der Hilfe braucht, dann bin ich froh, wenn die allgemeine Regel der Hilfsbereitschaft gilt. Ich glaube, dass Hilfsbereitschaft, Solidarität oder Nächstenliebe — wie immer man es auch nennen mag — am lebendigsten ist, wenn das erste Argument das stärkere ist. Das — wenn man es so nennen will — edle Argument ist das unmittelbarste, es gilt ohne großes Nachdenken, da ist jemand in Not, ich empfinde einfach Mitgefühl, das ist nichts durch Überlegung Antrainiertes, sondern Mitmenschlichkeit ist eine Weise, Mensch zu sein. Das andere praktische Argument kann leicht ausgehebelt werden. Weiß ich denn, ob man mir hilft, wenn ich Hilfe brauche? Der, der jetzt um meine Hilfe bettelt, ist dann bestimmt nicht da usw. Das edle Argument ist auf Dauer das stärkere, weil eben unmittelbarere.

Sehen wir uns das nochmal genauer an. Menschsein schließt irgendwie Mitmenschlichkeit ein, ich sehe den anderen ganz unmittelbar als meinen Mitmenschen an, fühle mich ihm nahe, verbunden. Wir sind Teil der einen Menschheitsfamilie. Das klingt nach einer großen Nähe, nach Verwandtschaft. Was heißt, verwandt zu sein? Man hat eine gemeinsame Herkunft, einen gemeinsamen Ursprung. Und hier ist die Brücke zu Gott. Er ist der gemeinsame Ursprung, er ist der Vater, durch den wir wirklich eine Menschheitsfamilie sind. Natürlich kann man das auch gleich als Bild verstehen, dann braucht es keinen lebendigen Gott, aber ein Bild — nach dem Motto: wir sind symbolisch eine Menschheitsfamilie — hat diese Kraft nicht. Das edle Argument, das den Schwachen als Mitmensch, ja als Bruder oder Schwester sieht, lebt von der unmittelbaren Wirklichkeit, die ich empfinde, nicht von einem nachträglich konstruierten Bild.  Wenn ich Gott rausstreiche, dann wird aus der Mitmenschlichkeit ein tierischer Impuls, das eigene Rudel zu beschützen. Mit dem, was wir Nächstenliebe oder eben Mitmenschlichkeit nennen, hat das dann nichts mehr zu tun. Dass Gott unser gemeinsamer Vater ist, ermöglicht die Lebendigkeit des edlen Arguments für die Nächstenliebe: dass wir ganz unmittelbar empfinden, dass der andere unser Mitmensch ist, Teil der gleichen Menschheitsfamilie.

Nun sind wir also bei Gott angelangt, aber kann man den wirklich lieben? Wie schon gesagt, es geht hier nicht um Gefühle wie bei einem Freund oder Ehepartner. Zunächst einmal um Zuwendung, Interesse. Gott ist nicht im handgreiflichen Sinne da, ich muss ihn suchen. Wem ich mich zuwende, wen ich suche, dem begegne ich ja immer schon mit einem gewissen Interesse, ja mit einer gewissen Zuneigung. Der Gott, der uns in Jesus Christus begegnet, ist Vater in einem besonderen, tiefen Sinne. Die Beziehung zu den Eltern ist ja keine einfache, unkomplizierte Sache, gerade wenn Kinder erwachsen werden. Irgendwann müssen erwachsene Kinder ein neues Verhältnis auf Augenhöhe zu ihren Eltern finden. Dies spiegelt sich in unserer Beziehung zu Gott, der uns in Christus begegnet, wider. Er ist der Vater, der Ursprung von allem, in dem und durch den wir eine Menschheitsfamilie sind, und zugleich geht er in Jesus an unserer Seite, begegnet uns auf Augenhöhe. Er lädt uns ein, begleitet uns, zwingt uns nicht.

Für viele Menschen heute ist diese Beziehung zu Gott aus ihrem Bewusstsein geschwunden, man denkt höchstens noch, dass Nächstenliebe an sich eine gute und wichtige Sache sei. Doch für Jesus gehören Gottes- und Nächstenliebe untrennbar zusammen. Es gibt für die Nächstenliebe im Wesentlichen ein edles und ein praktisches Argument. Das edle sagt, wir sind Teil einer Menschheitsfamilie, empfinden Mitgefühl, sehen den anderen unmittelbar als Mitmenschen. Das praktische sagt: jeder baucht mal Hilfe, auch ich, so funktioniert das Zusammenleben. Letztlich kommt es auf das edle Argument an, denn das ist das unmittelbarere. Unmittelbar und wirklich sind wir eine Menschheitsfamilie, wenn es einen gemeinsamen Ursprung gibt, wenn Gott unser Vater ist. Er ist der Anfang, der Ursprung. Wie ein wahrer Vater schenkt er uns nicht nur das Leben, sondern begleitet uns ein Leben lang — in Jesus auf Augenhöhe.