Der Zweck heiligt die Mittel?

9. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Dtn 5,12-15; Mk 2,23-3,6)

Ausnahmen bestätigen die Regel, so sagt der Volksmund und bestätigt so, dass es mit den Regeln und ihrer Auslegung so eine Sache ist. In unserer Zeit geht die Akzeptanz von Regeln insgesamt zurück, die freie Entfaltung des Einzelnen steht im Mittelpunkt. Besonders schwer hat es da die Religion, hier möchte man sowieso keine Regeln, man glaubt vielleicht, gelegentlich, irgendwie — vor allem so, wie man möchte. Mag das in dieser Ausprägung eine Erscheinung unserer Zeit sein, auch früher wurde schon über Regeln diskutiert, und Jesus erfährt selbst, dass man ihm vorwirft, er halte sich nicht an die Regeln der jüdischen Religion, hier an die Auslegung des Sabbatgebotes. Braucht es nun überhaupt Regeln, und wie soll ich mich an sie halten — wenn doch selbst Jesus eine Ausnahme macht?

Das heutige Evangelium wird gern zitiert, wenn es um Regeln im christlichen Glauben geht, der Sabbat ist um des Menschen willen da, also müssen alle Gebote des christlichen Glaubens menschenfreundlich ausgelegt werden, so ähnlich kann man es gelegentlich hören oder lesen. Seltsam nur, dass das meist heißt, dass die bequemste Lösung die richtige ist — auch wenn sie dem eigentlichen Gebot gar nicht mehr folgt. Egal — Hauptsache, menschenfreundlich. Bei einer Abiturprüfung habe ich einmal erlebt, dass eine Schülerin mit dem Argument „Gott will, dass ich glücklich bin“ alles begründen konnte. Es sollte doch einsichtig sein, dass man so sehr schnell auf eine schiefe Ebene gelangt. Zugespitzt gesagt, könnte ich so dem Nachbarn, der reicher ist, den Schädel einschlagen, denn ich brauche ein bisschen materielle Sicherheit, um glücklich zu sein. Letztlich landet man so bei der Argumentation „Der Zweck heiligt die Mittel“. Dieses Argument zerstört aber letztlich jede Moral, denn so kann ich alles rechtfertigen, denn ich habe es ja nur gut gemeint. Auch Terroristen rechtfertigen Anschläge so, denn sie wollen ja nur eine bessere Welt schaffen, wenn auch mit brutalen Mitteln, aber: der Zweck heiligt ja die Mittel. So geht es also offenbar nicht, dennoch: das Beispiel Jesu wie auch die Lebenserfahrung zeigen, dass Regeln und Gebote ausgelegt werden müssen und dass das nicht immer so einfach ist. Wie kann es also gehen?

Sehen wir uns die beiden Beispiele des Evangeliums genauer an. Die Jünger reißen ein paar Ähren ab, offensichtlich um ihren Hunger zu stillen. Einige Pharisäer sehen das als Verstoß gegen das Sabbatgebot an. Die Lesung aus dem Alten Testament beschreibt uns dieses Gebot. Es geht darum, dass alle — auch das Vieh — das Recht haben auf einen festen Tag, an dem sie sich ausruhen können. Bei näherer Betrachtung haben die beiden Sachverhalte gar nichts miteinander zu tun, das schnelle, beiläufige Stillen des Hungers und die versprochene Möglichkeit, von der Arbeit auszuruhen. Ganz ähnlich im zweiten Beispiel. Jesus heilt einen leidenden Mann. Es geht nicht darum, dass schwere körperliche Arbeit verrichtet wird, dass die zugesagte Ruhe nicht eingehalten werden darf, sondern einem Menschen in Not wird geholfen. Auf den zweiten Blick zeigt sich sogar eine gewisse Übereinstimmung mit dem Gebot, das Gebot der Sabbatruhe will auch eine Hilfestellung für den Menschen sein, dass er Erholung finden kann, dass er erfahren darf, dass Menschsein etwas Größeres ist als nur Arbeiten. Diese Erfahrung wird dem leidenden Menschen, der ja auch am Sabbat sozusagen von seiner Krankheit geknechtet ist, nun erst möglich.

Die Beispiele zeigen uns eine Möglichkeit auf, wie eine Regel sinnvoll ausgelegt werden kann. Zunächst sollte man den eigentlichen Sachverhalt, um den es bei der Regel geht, beschreiben. Hier ist es — wie mehrfach gesagt — der feste Tag, um auszuruhen. Bei einer heiklen Angelegenheit kann es auch sinnvoll sein, das schriftlich zu tun. Dann sollte man das, worum es einem selbst geht, ebenfalls so klar wie möglich formulieren — gegebenenfalls auch schriftlich,  vielleicht sogar auf einem anderen Blatt, aber nicht schon auf die Regel bezogen, nach dem Motto: warum ich unbedingt eine Ausnahme will. Beide Sachverhalte unabhängig und nüchtern formulieren und dann nebeneinander stellen. Wenn man dann feststellt, es geht eigentlich um verschiedene Dinge — auch wenn es auf den ersten Blick anders aussieht —, dann ist die Regel von meinem geplanten Verhalten gar nicht betroffen. So wie das Befreien eines Menschen aus seiner Not — so handelt Jesus an dem Kranken — nicht die versprochene Befreiung von der Arbeit im Sabbatgebot berührt. Ja, manchmal kann man — wie in diesem Fall der Heilung — sogar feststellen, dass das geplante Verhalten in einem tiefen Sinne der Regel entspricht, so wie der Mann — nun da er von seinem Leiden befreit ist — so etwas wie echtes Ausruhen kennenlernen darf.

Doch nicht wenige bestreiten inzwischen, dass es — gerade im Bereich der Religion — Regeln überhaupt braucht. Ohne dies an dieser Stelle erschöpfend behandeln zu können, scheint es mir doch offenkundig, dass da, wo Menschen zusammenleben, Regeln gebraucht werden, und in einem letzten Sinne leben wir alle immer zusammen, denn in irgendeiner Weise sind wir immer aufeinander bezogen. Ja, letztlich gibt sich der Mensch immer — bewusst oder unbewusst — Regeln, weil der Mensch eine bestimmte Regelmäßigkeit, einen bestimmten Rhythmus braucht, und die Psychologie hat viel zu tun mit Menschen, deren Rhythmus gestört ist. Ein einfaches Beispiel: Man hat Urlaub, endlich keine Verpflichtungen, keine Regeln. Doch je länger dieser Zustand anhält, desto wahrscheinlicher wird es, dass der Mensch wieder eine gewisse Regelmäßigkeit an den Tag legt. Man frühstückt zu einer bestimmten Zeit, geht dann an den Strand oder besichtigt etwas usw. Wenn keine Regeln da sind, gibt sich der Mensch welche, weil er einen bestimmten Rhythmus braucht.

Wie soll man also Regeln auslegen? Ganz sicher nicht mit dem Spruch „Der Zweck heiligt die Mittel“, damit lässt sich alles rechtfertigen, auch Terrorismus. Wenn wir das Verhalten Jesu und das Sabbatgebot anschauen, fällt auf, dass beides bei genauer Betrachtung sich gar nicht berührt. Wenn ich eine Regel und mein geplantes Verhalten beschreibe, nüchtern und unabhängig, dann kann ich sehen, ob beides sich überhaupt berührt. Letztlich kann der Mensch nicht ohne Regeln, weil er Regelmäßigkeit und einen bestimmten Rhythmus braucht.