Die Sehnsucht nach Ganzheit, nach Heil-Sein

Allerheiligen 2018 (Mt 5,1-12a)

Die fromme Helene — so nannte Wilhelm Busch im 19. Jahrhundert seine Bildergeschichte, die zum Inbegriff einer Scheinheiligkeit wurde, die die eigenen Fehler verbirgt, aber frömmlerisch auf die Fehler des anderen zeigt. Für nicht wenige Menschen ist heute — so jedenfalls meine Beobachtung — Heiligkeit ein in diesem Sinne verlogenes Ideal. Gleichzeitig verbindet sich mit dem heutigen Fest für viele die Hoffnung, dass nach dem Tod doch nicht alles aus ist, dass der geliebte Mensch, den man verloren hat, sich nicht einfach auflöst, auch wenn so ein (schein-)heiliges Ideal eine solche Hoffnung nicht begründen kann. Was also feiern wir heute? Was ist Heiligkeit, und was begründet unsere Hoffnung?

Die große Herausforderung, wenn man heute vom christlichen Glauben sprechen will, ist, dass man sich erstmal durch eine ganze Hülle von totem Material durcharbeiten muss, der sich um den lebendigen Kern gelegt hat. Die Schuld, die Christen auf sich geladen haben und auf sich laden, die Wut über dieses, die Enttäuschung über jenes, der Pfarrer, der einem nicht schmeckt — dieses und vieles andere bilden eine Schicht um das Eigentliche, das sich immer noch zu entdecken lohnt. Fangen wir also ganz von vorn an: Jesus und die Seligpreisungen. Es fällt auf, dass Jesus jene selig preist, die nach üblichen Maßstäben nicht zu den Gewinnern zählen. Und was bekommen sie? Selig sind sie, sagt Jesus, und was soll das bitte sein? Jesus verspricht ihnen, dass sie auf dem richtigen Weg sind, dass sie „ganz“ sein werden. Ich glaube, dass es in uns Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Ganzheit gibt, man mag es auch anders nennen, ich versuche es mit diesem Begriff. Ganzheit meint: wir sehnen uns danach, dass alles passt, dass nichts fehlt, dass die Dinge rund laufen — wie man so sagt. Gerade diejenigen, bei denen es nicht so rund läuft — und die spricht Jesus ausdrücklich an —, spüren diese Sehnsucht besonders. Auch wenn wir alle wohl gelegentlich die Neigung haben, eher die Fehler der anderen zu erkennen als die eigenen, ist Heiligkeit kein verlogenes Ideal, weil es im Letzten nichts anderes meint als diese Ganzheit, die der Mensch ersehnt, ob er gläubig ist oder nicht. Die Botschaft Jesu erinnert daran, dass der Mensch diese Ganzheit nicht selbst machen kann. Gewiss, die meisten Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass es irgendwann rund läuft, dass alles passt, aber diese Ganzheit ist keine wirkliche, sie ist auf eine kleine, begrenzte Welt beschränkt, die der Mensch sich bastelt, um etwas von diesem Ganz-Sein oder Heil-Sein zu erfahren, aber das bleibt immer zerbrechlich, vergänglich. Ganzheit — oder was das Neue Testament Heiligkeit nennt — ist nie die Leistung eines Menschen, sondern immer Geschenk des einzig wirklich Ganzen, des einzig wirklich Heiligen: Gott. Ein Heiliger ist also kein menschgewordener erhobener Zeigefinger, der die anderen bewertet, sondern ein Mensch, der um seine eigenen Fehler weiß und sich deshalb öffnet für die Ganzheit, die allein Gott zu schenken vermag. In dieser Welt ist nichts endgültig ganz, heil, vollendet. Dass wir dennoch diese Sehnsucht in uns tragen, zeigt doch, dass wir in irgendeiner Beziehung zu Gott stehen — ob uns das klar ist oder nicht.

Natürlich kann man diese Beziehung zu Gott bestreiten, und eben das geschieht ja auch in unserer Zeit sehr häufig, aber die negativen Folgen sehen wir doch auch. Überall kann man hören und lesen, dass die Demokratie in Gefahr ist. Unser Grundgesetz beginnt mit den Worten „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, das ist keine Spielerei, sondern eine grundsätzliche Aussage. Demokratie ist eben nicht die uneingeschränkte Herrschaft der Mehrheit, es gibt unveräußerliche Menschenrechte, Minderheitenschutz, den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit — all das kann auch nicht durch Mehrheitsbeschluss abgeschafft werden. Woher nehmen diese Grundsätze dann ihre Autorität, ihre Begründung? Aus dem Bewusstsein der Verantwortung vor Gott. Als Demokratie entstand, war klar, dass es bestimmte Rechte gibt, die durch die Rechtsordnung nur festgestellt werden, weil sie jedem Menschen gottgegeben sind — man denke auch an die Unabhängigkeitserklärung der USA. Wenn uns dieses Bewusstsein verloren geht, dass es neben der Mehrheit eine letzte und größere Autorität gibt, dann zerfleischt die Demokratie sich selbst.

Wo der Mensch glaubt, er sei aus sich heraus ganz, heil und fertig, scheitert er. Weil der Mensch sich in diesem Punkt unsicher ist, sucht er immer wieder das Urteil der anderen, manchmal ist es die Bewunderung, die man sucht, manchmal reicht auch der Neid der anderen. Für manchen ist es auch der Freund, dessen Anerkennung genügt. Ganz-Sein ist nie einfach eine einsame Sache, es erwächst aus der Begegnung. Wenn es mir nur um das Urteil der anderen, ihre Bewunderung oder auch ihren Neid geht, ist das gewissermaßen der traurige Abglanz dieser Einsicht. Ich brauche den Blick des anderen auf mich, der in gewissem Sinne erst diese Ganzheit schafft, der sie mich erfahren und spüren lässt — ja, jetzt passt es.  Doch auch der Blick des Freundes — auch des besten — ist nie vollständig uneigennützig, ist auch von Unsicherheit, vielleicht auch Neid geprägt. Nur der Blick dessen, der wirklich ganz ist, heil, schafft Ganzheit, lässt Ganzheit erfahren: das ist der Heilige schlechthin, Gott selbst. Sein Blick, seine Begegnung begründet die letzte Ganzheit, die auch der Tod nicht zerbrechen kann, das ist unsere Hoffnung.

Am heutigen Tag feiern wir die Heiligen, man könnte auch sagen: die Ganzen. Der Mensch trägt eine Sehnsucht nach Ganzheit in sich, dass alles endgütig passt, nichts fehlt, alles rund läuft. Die Welt kann das nicht bieten, wenn wir vergessen, dass es neben der Mehrheit eine andere größere Autorität gibt, zerfleischen wir uns selbst. Wir brauchen den Blick des anderen, erst dann ereignet sich Ordnung, erst dann erfahren wir Ganzheit. Doch letztlich schafft uns diese Ganzheit, dieses Heil-Sein nur der Blick dessen, der ganz ist, der Heilige schlechthin: Gott. Selig, wer dies begreift und lebt.