Die kostbarsten Werte geraten am schnellsten unter die Räder

Christkönig 2018 (Lesejahr B; Joh 18,33b-37)

Wertewandel — so hieß ein Schlagwort, das in den 90er-Jahren weit verbreitet war. Man nahm wahr, dass Gesellschaft sich verändert, weil Menschen sich von anderen Werten leiten ließen. Heutzutage hört man das Wort kaum noch, vielleicht weil die Situation zu unübersichtlich geworden ist. Wertewandel scheint ja anzudeuten, dass die Gesellschaft sich ingesamt in eine neue Richtung bewegt. Heute geht jeder in seine eigene Richtung, und dann stellt man gelegentlich fest, dass unter diesen Umständen so etwas wie Gesellschaft kaum noch funktionieren kann. Welche Werte sind es also, die die Kraft haben, uns zu verbinden? Und nach welchen Maßstäben suchen wir sie aus?

Einen Hinweis gibt uns das heutige Fest. Wir verehren einen König, also einen, der uns eben das geben kann, wonach wir suchen: Orientierung. Bevor nun der demokratische Impuls in uns sich zum Widerspruch aufschwingt, sei hinzugefügt, dass dieser König ja keiner ist, der durch seine Macht andere zwingen kann. Die Szene, die uns im Evangelium begegnet, ist ein Ausschnitt aus der Leidensgeschichte Jesu. Pilatus verurteilt den Unruhestifter Jesus zum Tod am Kreuz. Er ist das Gegenteil eines Machthabers: ein Gescheiterter, Gefolterter, Machtloser. Die höchsten Werte lassen sich niemals mit äußerer Macht durchsetzen. Romano Guardini sagt es so: Je höher ein Wert steht, desto weniger geht er mit äußerer Macht einher. Vielleicht kann man ein wenig salopp ergänzen: desto leichter kommt er unter die Räder. Ich halte das für eine sehr zutreffende Beobachtung. Je höher, je kostbarer ein Wert ist, desto mehr zielt er auf das Innere des Menschen, will ihn von innen berühren, bewegen und verändern. Doch das Innere des Menschen ist zart und verletzlich, nur was zart und fein ist, vermag ihn da zu berühren. Mit äußerer Gewalt, mit schnellem Zugriff ist nichts erreicht, eher zerstört. Darum ist Jesus glaubwürdig, weil er nichts mit äußerer Macht erzwingt, sondern gerade im Angesicht des Todes an seiner Botschaft festhält. Je kostbarer ein Wert ist, desto weniger geht er mit äußerer Macht einher.

Was aber sind nun diese kostbaren Werte? Es ist eigentlich gar nicht so schwer, sie aufzuzählen: Güte, Treue, Hilfsbereitschaft, Bereitschaft zur Vergebung. Warum sind es gerade diese Werte? Weil sie das Menschsein in ganz grundsätzlicher Weise möglich machen — auch in seiner Schwäche und Gebrochenheit. Darum gehört zu den wichtigsten Werten eben auch die Bereitschaft zur Vergebung, weil Menschsein nur möglich ist, wenn Schuld vergeben wird, wenn wir einander einen neuen Anfang schenken können. Einen Wert sagt uns das Evangelium noch, und es scheint mir symptomatisch für unsere Zeit, dass die meisten diesen Wert auslassen würden. Jesus sagt, er ist gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Offenbar erkennt er gerade darin die Mitte seines König-Seins. Ohne Wahrheit gibt es keine Güte und keine Vergebung, nur Betrug und Taktik. Menschsein gelingt nur im Miteinander, dazu braucht es Kommunikation, Gespräch — wie soll das gehen ohne Wahrheit? Wahrheit heißt in diesem Zusammenhang, dass wir alle auf einer gemeinsamen Grundlage stehen und dies auch anerkennen. Die kostbarsten Werte sind die, die durch keine äußere Macht durchgesetzt werden können, die Menschsein auch in Schwäche und Gebrochenheit in ganz grundsätzlicher Weise möglich machen. Eines kommt für mich noch hinzu: Die kostbarsten Werte entfalten ihre Kraft im ganz Großen wie im Kleinen, Alltäglichen. Güte kann sich zeigen in einer kleinen Geste einem hilfsbedürftigen Menschen gegenüber wie in der großen Spendenbereitschaft einer Gesellschaft im Angesicht einer Katastrophe. Und beides mag den, der es mitbekommt, sehr berühren. Wahrheit kann Treue und Aufrichtigkeit in einer Begegnung mit einem Menschen bedeuten, aber eben auch, dass uns alle etwas verbindet und zusammenhält, das über uns hinausweist. Die kostbarsten Werte entfalten ihre Kraft im Großen wie im Kleinen, Unmittelbaren.

Mancher mag nun fragen, wo bei alle dem der Glaube bleibt. Geht es uns nicht darum? Ja, so ist es. Und der Glaube ist längst da — auch wenn er übersehen wird. Wenn der Mensch versucht gut zu sein, versucht einem anderen zu vergeben, was braucht es da? Es braucht eine Art von Grundvertrauen, das mich ermutigt, das mir Kraft gibt. Nun kann man versuchen das psychologisch zu deuten, als das Urvertrauen, das sich im Menschen in der Bindung an die Eltern entwickelt. Das ist sicher nicht falsch, aber eben nur ein Blickwinkel. Woher kommt dieses Vertrauen im letzten und tiefsten Sinne? Was macht es möglich, dass es in unserer Welt so etwas überhaupt gibt? Ich glaube, im Letzten bedeutet dieses Vertrauen, dass ich zu einem Größeren gehöre, der mir Kraft gibt, dass ich Güte und Wahrheit nicht einfach ständig neu hervorbringen, quasi neu erfinden muss, sondern dass ich eben zu einem Größeren gehöre, dessen Güte und Wahrheit ich sozusagen nur den Weg bereiten muss. Eben das ist Glaube. Jener Größere, der Güte und Wahrheit ist, das ist er, den wir Gott nennen. Ich bin fest überzeugt, dass eine Form von Glauben — sei sie bewusst oder unbewusst — zur Verwirklichung der kostbarsten Werte, die ich eben nicht aus mir holen kann, gehört.

Gerade heute ist es unerlässlich, nach den Werten zu suchen, die uns gemeinsam leiten können. Je höher ein Wert steht, desto weniger geht er mit äußerer Macht einher, desto leichter kommt er unter die Räder. Güte, Treue, Hilfsbereitschaft, Bereitschaft zur Vergebung, Wahrheit sind gewiss die wichtigsten Werte, weil sie Menschsein auch in seiner Schwäche ermöglichen. Sie entfalten ihre Kraft im Großen wie im Kleinen, Alltäglichen. Sie werden möglich durch ein Grundvertrauen, dass ich zu einem Größeren gehöre, so dass ich Güte und Wahrheit nicht einfach ständig neu hervorbringen, quasi neu erfinden muss, sondern dass ich eben zu einem Größeren gehöre, dessen Güte und Wahrheit ich sozusagen nur den Weg bereiten muss. Eben das ist Glaube. Gott ist dieser Größere, er ist die Güte und die Wahrheit. Dafür Zeugnis abzulegen sind auch wir heute gerufen.