„Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.“

Weihnachten 2018

Vor ein paar Tagen musste ein großes deutsches Nachrichtenmagazin eingestehen, dass einer seiner Journalisten über Jahre Artikel gefälscht, ja manches sogar erfunden hatte, ohne dass dies jemand aufgefallen war. In den Augen zahlreicher Menschen ist das wahrscheinlich eine Bestätigung der weithin verbreiteten skeptischen Haltung. Man kann also niemandem mehr trauen, muss alles anzweifeln, erschüttern, hinterfragen. Dieser Skeptizismus, der zu allem Abstand hält, alles hinterfragt, manchmal auch spöttisch belächelt, ist längst für viele — bewusst oder unbewusst — zur Lebenshaltung geworden. Was bleibt vom christlichen Glauben, was bleibt vom Glauben an die Menschwerdung Gottes, die wir heute feiern, wenn wir aus skeptischer, prüfender Haltung darauf blicken?

Letztlich bleiben — so betrachtet — ein paar alte Legenden, schöne Geschichten, die unsere Kultur geprägt haben, man denke an die gerade im Alpenland verbreitete Kunst des Krippenbaus, die viele — unabhängig vom christlichen Glauben — erfreut. Vielleicht bleibt ein bisschen mehr, der Gedanke an die Armen und Schwachen, schließlich steht ein kleines Kind, das aus der Not heraus in einer Krippe liegt, im Mittelpunkt des Ganzen. Das war es dann aber auch, der Kern des Ganzen, dass es Gott gibt und dass er ein Mensch unter Menschen wird — all das scheint dem skeptischen Menschen unserer Zeit nicht mehr vermittelbar.

Oder doch? Man sollte eines nicht vergessen, nämlich die skeptische Haltung selbst einmal skeptisch zu betrachten. Was heißt denn „skeptisch“? Dieses Wort kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet: untersuchen, prüfen, erwägen. Also tun wir das doch einmal: wie lässt es sich mit einer solchen skeptischen Haltung leben? Wer so denkt und lebt, ist bemüht alles in Frage zu stellen. Glauben scheint ihm verdächtig, da es letzte Wahrheiten nicht gibt, jeder Standpunkt ist letztlich nur dazu da, hinterfragt und durch Gegenrede herausgefordert zu werden. Letzte Sicherheiten gibt es nicht. Das klingt spannend, offen, wie es viele heute schätzen — aber dann kommt etwas dazwischen: das Leben. Das Leben zwingt uns immer wieder zu Entscheidungen, und auch das Ausweichen ist eine Entscheidung. Der Ehepartner, der gute Freund, sie suchen in der Not jemanden, der entschlossen an ihrer Seite steht und nicht skeptisch oder ironisch auf Abstand bleibt, weil er alle Verpflichtungen hinterfragt. Auch im Beruf muss ich Entscheidungen treffen: Gehe ich dieses Risiko ein oder nicht, hintergehe ich meinen Kollegen oder nicht — weil es ohnehin keiner merkt und ich einen Vorteil habe? Mein Eindruck ist, dass die skeptische Lebenshaltung zu einer Art Zweigleisigkeit führt. Im Grundsätzlichen führt man gern Debatten und hält sich alles offen, bleibt eben skeptisch, auf Abstand zu allem, doch das Leben nötigt uns Entscheidungen ab, die man dann situationsabhängig, pragmatisch trifft, nach irgendwelchen Maßstäben, die man vorher auf der grundsätzlichen, theoretischen Ebene noch verspottet hat — oder man handelt schlicht und ergreifend nur noch nach dem eigenen Vorteil. Ich gebe zu, das klingt ein wenig holzschnittartig vereinfachend, aber wer prüfen, untersuchen, erwägen will, der muss auch verallgemeinern. Die skeptische Lebenshaltung führt letztlich in einen Widerspruch. Im Grundsätzlichen hält man sich alles offen, bleibt fragend und prüfend zu allem auf Abstand, im Leben muss man dann doch irgendwie, nach irgendwelchen Maßstäben entscheiden — und sei es der eigene Vorteil. C.S. Lewis, ein britischer Schriftsteller, bringt es so auf den Punkt: „Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.“

Gehen wir noch einmal zurück zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes: untersuchen, prüfen, erwägen. Wer dem Leben so begegnet, der tritt gewissermaßen mit ihm in ein Gespräch ein. Man prüft, schaut hin und glaubt etwas verstanden zu haben, beispielsweise, dass es gut ist, einem Freund beizustehen. Doch das nächste Mal fordern zwei Freunde Aufmerksamkeit, und es ist nötig, zu entscheiden, was oder wer vorrangig ist. Dann wird man von einem Freund enttäuscht und stellt in Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, einem anderen in diesem Maße zu vertrauen, aber ohne Vertrauen geht es nicht usw. Es ist ein Hin und Her, ein Vertiefen und Korrigieren, ein Hören und Antworten, ein Ringen, ein Sich-Auseinandersetzen. Mir fällt da eine Stelle aus dem Alten Testament ein. Jakob findet seinen Weg erst, nachdem er eine Nacht mit einem Fremden gerungen hat. Eine geheimnisvolle Stelle, es wird nur angedeutet, wer dieser Fremde ist, offenbar ist es Gott, der Jakob im Fremden begegnet. Das ist für mich ein Bild für eine wirklich sinnvolle prüfende Haltung. Ich muss sozusagen mit dem Leben in ein gutes, ernstes Gespräch treten, manchmal auch mit ihm ringen. Sinnvoll ist das nur, wenn da wirklich ein Gesprächspartner ist, einer, der letztlich das Leben selbst ist, aber zugleich mir ganz menschlich nahe. Wer sollte das sein — außer Gott, der Mensch wird? Der Kampf zwischen dem Fremden und Jakob ist schon eine Andeutung der Menschwerdung. Gott ist fremd, größer als unser Verstehen und doch ganz nahe, der Fremde kommt Jakob auch in einem körperlichen Sinne nahe. Der christliche Glaube war es, der den Menschen einlud, die Welt genauer zu verstehen, weil er sie als dem Menschen anvertraute Schöpfung sieht und nicht mehr als von verschiedenen göttlichen Kräften belebt und gesteuert. Diese fragende, prüfende Haltung ist sinnvoll, aber sie wird zum sinnlosen Skeptizismus, wenn sie keinen Gesprächspartner in Gott mehr hat, den sie fragen kann, mit dem sie aber auch ringen muss.

Weit verbreitet ist heute eine skeptische, alles hinterfragende Lebenshaltung, die für viele mit dem christlichen Glauben, ja letztlich überhaupt mit Religion nicht vereinbar ist. Eine solche Lebenshaltung führt — so bin ich überzeugt — in einen Widerspruch. Im Grundsätzlichen hält man sich alles offen, bleibt fragend und prüfend zu allem auf Abstand, im Leben muss man dann doch irgendwie, nach irgendwelchen Maßstäben entscheiden — und sei es der eigene Vorteil. Um sinnvoll zu prüfen, zu untersuchen, muss ich mit dem Leben in ein ernstes, gutes Gespräch treten, doch das ist nur sinnvoll, wenn da ein Gesprächspartner ist, einer, mit dem ich auch manchmal ringen muss — wie Jakob im Alten Testament —, einer der das Leben selbst ist und doch uns menschlich nahe. Wer soll das sein außer ihm, den wir heute feiern? Gott wird ein Mensch unter Menschen.