Wer ist mein Nächster?

15. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Lk 10,25-37)

„Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gern für die Religion fechten und so ungern nach ihren Vorschriften leben?“, spottete im 18. Jahrhundert der Physiker Georg Lichtenberg. Auch wenn in unseren Breitengraden im wörtlichen Sinne nicht mehr so viel für Religion gefochten wird — zumindest was das Christentum angeht —, so trifft sein Spott doch auch heute noch. Auch wer heute Religion verteidigt, lebt nicht immer so recht nach ihren Vorschriften — wie wir wohl selbstkritisch einräumen müssen. Im heutigen Evangelium begegnet uns die Mitte dieser Vorschriften: die Gottes- und Nächstenliebe. Klar, kann man sagen, dass man helfen soll, ist sowieso bekannt. Stimmt, aber gleichzeitig ist klar, dass keiner allen helfen kann. Jesus weiß das und sagt deshalb: dem Nächsten sollen wir helfen. Aber wer ist mein Nächster? In Zeiten, in denen mir jemand in Australien durch soziale Medien näher sein kann als mein Nachbar zwei Häuser weiter, ist das gar nicht so einfach zu beantworten. Wem soll ich helfen? Wer ist nun mein Nächster? Der Bettler auf der Straße oder doch mein Freund, der weiter weg ist? Und was um Himmels willen hat Gott, den wir ja auch noch lieben sollen, damit zu tun?

Zunächst gilt es, ein sprachliches Problem aus dem Weg zu räumen. Wie soll man mich verpflichten, einen anderen zu lieben? Ich kann doch nicht für jeden Notleidenden freundschaftliche Gefühle entwickeln. Darum geht es auch nicht, das Gleichnis berichtet nichts von Sympathie oder großen Gefühlen zwischen dem Verletzten und dem Samariter. Ein genauer Blick auf den altgriechischen Urtext bestätigt das Ganze. Das Wort, das hier mit Liebe übersetzt wird, muss man eher als Hilfsbereitschaft verstehen. Und wem soll ich nun helfen? Zwei der drei Vorübergehenden sehen den Verletzten und sehen ihn doch nicht, sie gehen weiter. Der Samariter sieht ihn — und was passiert? Er hat Mitleid. Das ist der erste Hinweis. Ich glaube, wir dürfen uns auch heute ein Stück weit von unserem Mitgefühl leiten lassen. Ich kann im täglichen Leben nicht immer das große Nachdenken starten: helfe ich dem jetzt oder nicht? Entschuldigung, liebe Kollegen, ich muss jetzt erst mal eine Viertelstunde Argumente für oder gegen einen Hilfseinsatz suchen. So funktioniert das Leben nicht. Manchmal spürt man spontan Mitgefühl und darf so auch Hilfe gewähren. Punkt. Klar ist aber auch, nicht alles lässt sich so lösen. Manche Hilfe ist größer und umfassender und braucht daher wirklich genaue Überlegung: kann ich, muss ich, soll ich helfen? Letztlich — glaube ich —kann man es auf eine kurze Formel bringen: ich soll da helfen, wo es wenig Einsatz, und da, wo es viel Einsatz braucht. Manchmal braucht es wenig, um doch wirksam zu helfen. Ein freundliches Wort, das den anderen aufrichtet, ein schneller Handgriff, der mich nicht einmal viel Zeit kostet, dem anderen aber ein Problem löst. Das ist sinnvoll: helfen, wo es wenig Einsatz kostet, aber einiges bewirkt. Gleichzeitig soll ich da helfen, wo es viel Einsatz kostet: Damit meine ich, ich soll auch da helfen, wo es gerade auf meine Fähigkeiten ankommt, wo ich das, was ich kann, am besten einsetzen kann. Sei es mein Organisationstalent, meine Fähigkeit kräftig zuzupacken oder einfach, dass ich auch da Zeit habe, wenn andere keine Zeit haben usw. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Ich weiß, das ist auch keine Patentlösung, keine Schablone, die man über das Leben legen kann, und dann hat man eine schnelle Antwort, aber es ist eine Verstehenshilfe. Am besten ist es da zu helfen, wo eine kleine Geste genügt, ein freundliches Wort, ein schneller Handgriff. Gleichzeitig sollte ich helfen, wo meine Fähigkeiten am besten eingebracht werden, wo ich mich langfristig engagiere oder auch kurzfristig mal gebraucht werde, wo es eben auf meine Begabung ankommt.

Und was hat nun Gott mit all dem zu tun? Jesus stellt die Gottesliebe sogar an den Anfang. Auch hier muss man das Wort Liebe etwas anders verstehen. Vielleicht sollte man sagen: Du sollst Gott freundlich in deinem Leben begrüßen. Wozu?, fragt mancher? Weil er längst da ist, antworte ich als Glaubender. Warum fühlen wir denn die Pflicht zu helfen, egal wie unklar und verschwommen? Wer oder was kann uns freiheitsliebende Wesen so verpflichten? Nicht ein namenloses Gesetz, sondern nur ein Jemand, der uns wirklich auf Augenhöhe begegnet. Nur wo echte Verbindung ist, akzeptieren wir auch Bindung. Dieser Jemand, der uns bindet, ist Gott, der uns in Jesus auf Augenhöhe begegnet. Oft beobachte ich bei Menschen unserer Zeit zweierlei. In manchen stillen Stunden fühlt man sich ganz klein, erkennt, dass die Welt so viel größer ist als ich, dass ich so wenig in der Hand habe. Diese Einsicht hält der Mensch nicht aus, also bläst man sich in Gegenwart anderer auf, will wichtig und groß erscheinen, was oft genug lächerlich wirkt und gelegentlich wie eine Seifenblase zerplatzt. Der Glaube an Gott zeigt einen anderen Weg. Ich weiß, dass ich klein bin, dieser Erfahrung kann in einer stillen Stunde niemand ernsthaft entgehen, aber ich glaube an einen Größeren, an Gott, der will, dass ich groß bin. Deshalb muss ich mich nicht aufblasen, muss nicht mehr scheinen wollen, als ich bin. Gott will, dass ich groß bin. Ich erfahre auch, dass mir das nicht immer hilft, das ist kein Zaubertrick, aber es ist besser als nichts, es ist besser als eine lächerliche Figur zu werden, die sich selbst überschätzt. Und es gibt Mut, der inneren Stimme, die zum Helfen ruft, zu folgen.

Es ist Gott, der so ruft, ohne ihn bleibt nur das Sich-klein-Fühlen im Stillen und Wichtigtuerei vor anderen. Gott ist es, der sich uns in Jesus verbindet, nur wo Verbindung ist, akzeptieren wir Menschen Bindung. Helfen sollte ich vor allem da, wo es wenig Einsatz, und da, wo es viel Einsatz kostet. Manchmal reicht ein freundliches Wort oder ein schneller Handgriff. Gleichzeitig ist sinnvoll da zu helfen, wo es gerade auf meine Talente ankommt — kurzfristig oder langfristig. So finde ich meinen Nächsten.