Das Wort Gottes fällt aus dem Rahmen!

16. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Lk 10,38-42)

In letzter Zeit geht mir manchmal der Gedanke durch den Kopf, was jemand denkt, der – aus welchen Gründe auch immer – zufällig in unseren Gottesdienst kommen würde, ohne viel darüber zu wissen. Ein großes Buch wurde eben herumgetragen, eine Geschichte vorgelesen, die niemanden überrascht hat usw.: ein leeres Ritual, das offenbar nicht viel bedeutet. Dabei heißt es doch ausgerechnet in dieser Geschichte, die wir heute gehört haben, dass das Hören auf den Herrn der gute Teil sei, den Maria klugerweise gewählt habe und der ihr nicht genommen werde. Die neue Einheitsübersetzung spricht nicht mehr vom besseren Teil, das war ganz offensichtlich keine treffende Übersetzung. Ein bisschen provokativ ist das Ganze schon, Jesus weist die geschäftige Hausfrau in ihre Grenzen, obwohl er wahrscheinlich nachher das zubereitete Essen gern angenommen hat. Diese augenzwinkernde Lässigkeit fehlt uns wohl manchmal als Kirche. Wie auch immer: Der Kern der Botschaft ist allerdings klar: der gute Teil ist das Hören auf sein Wort, darauf kommt es an. Wie können wir Gottes Wort richtig hören, so dass es einen Unterschied macht und nicht nur an uns abperlt?

Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass unser Leben einem Kleinkinderspiel mit Bauklötzen ähnelt. Da gibt es einen Rahmen mit runden, dreieckigen und viereckigen Löchern, und in die muss man die entsprechend geformten Bauklötze einfügen. So funktioniert das Leben, sagen wir mal – um das Beispiel zu vervollständigen – Religiöses hat die runde Form, Familie und Freizeit die dreieckige, Berufliches die viereckige Form. So kommen die Dinge auf uns zu, sind vertraut, wir können mit ihnen umgehen, sie einsortieren, Familie ist halt anders als Beruf, erfordert anderes Verhalten. Manchmal ist ein Baustein ein wenig höher oder bunter, alles ist recht, Hauptsache, er passt – das gilt auch für die Religion, gern mal ein bisschen bunter und abwechslungsreicher, aber bitte in der runden Form, dass sich alles nahtlos in meinen Rahmen einfügt und das Spiel des Lebens aufgeht. Wenn das Leben so abläuft, hat das Wort Gottes keine Chance. Klar, das sind erbauliche Geschichten, wir lernen was über Jesus, man denke an den barmherzigen Samariter vom letzten Sonntag, wie schön, man muss den Schwachen helfen, Bauklötzchen einsortiert, alles am Platz. Das Wort Gottes hat aber keine vorgefertigte Form, die in unseren Rahmen passt, es fällt aus dem Rahmen! Es ist eben nicht einfach ein Wort, es ist eine Kraft, eine Dynamik, es ist Gott selbst, der begegnet. Maria hat das – anders als ihre Schwester Martha – ganz offensichtlich wahrgenommen, letztere hat den Besuch Jesu ins übliche Schema gepackt, ein Gast kommt zu Besuch, also wird aufgetischt; Gastfreundschaft ist im Orient besonders wichtig. Maria hat begriffen, dass hier die althergebrachten Formen nicht taugen, dem Herrn zuzuhören, das ist das Richtige, der gute Teil. Um unser Bild von den Bauklötzen zu verwenden: das Wort Gottes hat keine vorgefertigte Form, die sich in meinen Rahmen einfügt, ich muss – so hart das klingt – in den Rahmen eine neue Form schnitzen, muss ihn anpassen an das, was das Wort Gottes anzeigt. Nur wenn ich dazu bereit bin, kann ich seine Kraft erfahren – so schwierig das zugegebenermaßen ist. Nicht ich darf dem Wort Gottes die Form, die Rolle, den Platz zuweisen, es muss umgekehrt sein, nur wenn diese Bereitschaft da ist, kann ich seine Kraft erfahren. Versuchen wir das überhaupt noch? Kein Wunder, dass Glauben in den Augen so vieler belanglos ist! Gewiss kann ich nicht von jedem Wort Jesu betroffen sein, für den heiligen Franziskus war es beispielsweise ein Wort Jesu, das er gehört und das sein Leben in besonderer Weise geprägt hat. Das muss auch nicht immer für andere sichtbar sein, es kann ein neuer Umgang mit einem Menschen oder einer Situation sein. Die stillen Revolutionen gehen meist tiefer, das sei besonders in unserer lauten und grellen Zeit gesagt.

Man kann das natürlich auch als Bedrohung der eigenen Freiheit sehen, etwas Fremdes sprengt meinen Rahmen und überwältigt mich. Eine bestimmte Erfahrung sollte uns eines Besseren belehren. Ich muss Großem, das auf mich zukommt, auch gestatten, mich zu formen und zu prägen. So gewinne ich mich, so verliere ich mich nicht. Man denke an eine Freundschaft oder an ein Talent, wo ich diese nur in meine Formen pressen will, passiert nichts Großes.

Das beste Beispiel hierfür sind Eltern und Kinder. Ich glaube, dass es nicht nur für Kinder am besten ist, sie nicht in die Form bestimmter Erwartungen der Eltern zu pressen, sondern ihnen den Raum zu geben, den sie brauchen, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln, ihre Talente zu finden, anstatt den Ehrgeiz der Eltern zu befriedigen. Nein, ich glaube, auch für die Eltern ist das am besten, so lernen sie viel über sich, entdecken, wer sie sind – in der Begegnung mit ihren Kindern, indem sie die Kinder in der Art wachsen und reifen lassen, die deren Anlagen und Begabungen entspricht und nicht den elterlichen Erwartungen. Indem ich dem Großen, das auf mich zukommt, gestatte, die Form der Begegnung zu bestimmen, erfahre ich wirklich, wer ich bin, werde bereichert, anstatt dieses Große auf handelsübliche Größe zurechtzuschneiden – und so das Beste zu verpassen.

Maria hat wirklich den guten Teil erwählt, in dem sie dem Herrn zuhörte. Das Wort Gottes ist eine Kraft, eine Dynamik, die sich mir nur erschließt, wenn ich es nicht in vorgefertigte Formen presse, sondern mir stattdessen von Gottes Wort die Form geben lasse. Das ist nicht unmenschlich, sondern letztlich der einzige Weg, Mensch zu sein. In der Begegnung mit dem Großen muss ich mich formen lassen, so werde ich bereichert, so werde ich wachsen und entdecken, wer ich bin, so wie Eltern zu sich selbst kommen, wenn sie ihr Kind nicht in Erwartungen pressen. Mögen auch wir den guten Teil wählen, auf dass er uns nicht genommen werde.