Von richtigen und falschen Bindungen

23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Lk 14,1.7-14)

Überlegt euch genau, was ihr tut! So könnte man wohl das Evangelium des heutigen Sonntags zusammenfassen. Viele sind mit Jesus unterwegs und ihn beschleicht offensichtlich der Eindruck, dass da mancher dabei ist, dem gar nicht klar ist, worauf er sich einlässt. Also warnt er sie. Wer mit ihm geht, soll wissen: die Bindung an Jesus ist wichtiger als alles andere — auch als Familie und Besitz. Für unsere Zeit ist das in mehrfacher Hinsicht eine Provokation. Ungebundenheit oder lockere Bindungen, die diesen Namen kaum verdienen, sind heute angesagt, doch das ist eine Einbildung. Wir sind vielfach gebunden: an Beziehungen, die uns prägen, ob wir es wollen oder nicht, an Herkunft und Lebensgeschichte, in beruflicher Hinsicht an mancherlei Vorgaben. Sicher, von manchen Bindungen können wir uns befreien, aber gewiss nicht von allen, und manche wirken gerade dann, wenn wir glauben, sie losgeworden zu sein. Jesus unterscheidet offenbar zwischen richtigen und falschen Bindungen. Worin liegt nun der Unterschied? Ist eine falsche Bindung wirklich die an die Familie? Was ist eine richtige Bindung?

Wenn wir biblische Texte nicht einfach an uns abtropfen lassen, stößt eine Provokation besonders auf: die Absage an Familie und Besitz. Familie ist hier allerdings nicht die Kleinfamilie, in der man sich lieb hat, sondern die Großfamilie, die soziales Netz und Arbeitgeber in einem ist. Besitz war im letzten Sinne nichts Privates, sondern eben Besitz dieser Großfamilie. Wer sich also mit Jesus auf den Weg machen will, muss dieses soziale Netz verlassen und damit auch auf seinen Anteil am Besitz der Großfamilie verzichten. Es gab keine Geldautomaten, wo der Jünger Jesu unterwegs schnell mal was abheben konnte. Es ist offensichtlich, dass wir heute in einer ganz anderen sozialen Situation leben, doch eine Provokation bleibt: ob eine Bindung richtig oder falsch ist, zeigt sich daran, ob sie der Bindung zu Jesus im Weg steht oder nicht.

Für den Menschen unserer Zeit stellt das ein hohes Hindernis dar. Ungebundenheit ist sowieso — wie gesagt — das Ideal, und dann noch dieser Ausschließlichkeitsanspruch Jesu, das geht zu weit. Versuchen wir also, das Ganze einmal grundsätzlich zu bedenken. Ungebundenheit ist — wie schon formuliert — eine Einbildung, wir unterliegen vielfältigen Bindungen. Offensichtlich gibt es richtige, sinnvolle Bindungen, das sind solche, die für uns zum Halt werden, während schlechte Bindungen zur Fessel werden, zur Falle oder gar zum Gefängnis. Eine schlechte Bindung ist eine egoistische Bindung nach dem Motto: wir gegen den Rest der Welt. Das klingt für manche verlockend, klappt aber nicht. Es kann die Partnerschaft sein, die anstatt zum bei der Trauung beschworenen Himmel auf Erden für beide bald zur Hölle wird oder ein auf Hilfsbereitschaft gegründetes Miteinander, in dem einer sich alsbald leer und ausgenutzt fühlt. Manchmal gilt das auch für Eltern, die ihre erwachsenen Kinder so an sich binden, dass denen kein eigener Raum mehr bleibt. In solchen Bindungen ist mindestens einer schwach — und oft ist das der, der auf den ersten Blick als der Starke erscheint. Er ist es aber nicht, sondern braucht die Abhängigkeit des anderen, um sich stark zu fühlen. Manchmal halten zwei sich auch gegenseitig in Abhängigkeit und zehren sich gegenseitig auf, verletzen sich und kommen doch nicht voneinander los. Schlechte Bindungen sind Bindungen nach dem Motto: wir gegen den Rest der Welt. Letztlich benutzt der eine den anderen oder beide einander, die Bindung wird zur Fessel, zum Gefängnis.

Die richtige Bindung ist die, die offen auf den Größeren, auf Gott hin ist. Darum schließen — nach christlichem Verständnis — Menschen vor Gott ihre Ehe. Ein Eid, der ja die feierliche Übernahme einer Bindung ist, wird traditionell mit Gottes Hilfe abgelegt: So wahr mir Gott helfe. Die Eidesleistung im Dritten Reich kannte eine solche Offenheit auf Gott hin nicht mehr, sie war ganz auf die Person Hitlers zugeschnitten und trug so dazu bei, dass viele Soldaten und Offiziere sehenden Auges mit in den Abgrund marschiert sind. Sie glaubten sich durch ihren Eid gebunden. Eine Bindung, die Gott ausschließt, kann leicht zur Fessel werden — manchmal auch ohne, dass man es merkt. Eine Bindung, die mit Gottes Hilfe gewagt wird, verhindert, dass einer sich absolut setzt und dem anderen zur Fessel wird — jedenfalls wenn Gott nicht zu einem anderen Namen der eigenen Ansprüche gemacht wird, sondern der ist, der uns in Jesus begegnet.

Die Bindung an Gott, der uns in Jesus begegnet, ist die entscheidende. Sie ist es auch, die mich  zu mir selbst befreit. Dieses „Ich-selbst-Sein“, den eigenen Weg gehen, das eigene Ding machen — das ist heute ja sehr beliebt. Oft — so jedenfalls meine Erfahrung — ist das ein anderes Wort für Egoismus. Ich selbst zu werden — das bedeutet nicht einfach Regeln zu brechen, sondern auch mich selbst auszuhalten mit meinen Grenzen. Das bin ich, das kann ich — und das eben nicht. In der Beziehung zu Gott geht es um diese Grenzen und um keine anderen. Die Bindung an ihn ist Halt und nicht Fessel, weil er keinen Halt braucht, er muss mich nicht benutzen. Er muss meine Grenzen nicht verschieben, um mich klein zu machen, das hat er nicht nötig. Vor ihm sind meine Grenzen einfach die, die es sind. So bin ich und so nicht. Gott macht uns nicht klein, wie mancher glaubt. Wir alle haben unsere Grenzen, es wäre lächerlich, das zu bestreiten. In der Bindung an Gott erfahren wir sie, wie sie wirklich sind, so bin ich und so nicht. Das auszuhalten, bedeutet auch ich selbst zu sein.

Genau besehen hat Jesus also doch recht: die falsche Bindung ist die Bindung ohne Gott, wie er uns in Jesus begegnet, sie wird leicht zur Fessel, weil einer den anderen oder beide einander ausnutzen. Die richtige Bindung ist die Bindung, die offen ist auf Gott, der uns in Jesus begegnet. So kann keiner sich absolut setzen und den andern einsperren. Die Bindung an Gott hilft mir ich selbst zu sein, indem mich mich aushalte mit meinen Grenzen. Gott muss diese nicht verschieben, um groß zu sein. Vor ihm darf und kann ich der sein, der ich bin.