Es gibt die Spuren Gottes, der uns sucht

24. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Lk 15,1-10)

Ist es nicht schön, dass Gott barmherzig ist? Dass er immer einen neuen Anfang schenkt? So freut man sich innerhalb der Kirche, dass man so eine tolle Botschaft hat. Doch wagt man einen Blick über den kirchlichen Binnenraum hinaus, wird man schnell ernüchtert. Es kümmert gar keinen. „Was juckt mich dieser Gott mit seiner Barmherzigkeit? Mein Leben ist gut — manchmal auch nicht so gut, aber von Gott und seiner angeblichen Barmherzigkeit merke ich da nichts" — so kann man wohl die Meinung der meisten Leute umschreiben. Ein bisschen steht man als Glaubender nun wie ein begossener Pudel da und fragt vorsichtig: An welchen Stellen im Leben scheint vielleicht doch wenigstens eine Ahnung des barmherzigen Gottes durch?

Gewiss, eine erste Antwort liegt auf der Hand. Wenn Menschen eine Krise durchleben, vielleicht das Zerbrechen einer Partnerschaft, dann suchen sie eher nach einem Zuspruch, der ihnen einen Neuanfang verspricht, dann ist möglicherweise der Glaube an einen Gott attraktiv, der verzeiht, auch wenn die Menschen Vergebung ablehnen. Doch ich will mich nicht mit dieser üblichen Antwort zufriedengeben. Gibt es nicht auch sonst — ohne die große Krise — Spuren des barmherzigen Gottes im Leben der Menschen? In den beiden Gleichnissen, die wir gehört haben, fällt mir auf, dass es nicht ausschließlich um Vergebung geht, sondern um die Zusage, dass ich Gott nicht gleichgültig bin, dass er mich in gewisser Weise sucht — allerdings ohne sich aufzudrängen. Zu den beiden Gleichnissen gehört auch das bekannte vom verlorenen Sohn. Hier, wo der Verlorene kein Geldstück und kein Schaf ist, muss der Sohn selbst umkehren, auch wenn der Vater ihm dann entgegenkommt. Gott sucht uns, ohne uns zu nötigen, ohne sich aufzudrängen, er ruft mit leiser Stimme, aber wo ist sie zu hören? Wo sind die Spuren Gottes, der uns sucht?

Manchmal haben wir Menschen die Neigung, uns vor bestimmten Wahrheiten zu drücken, ja uns regelrecht zu verstecken. Das kann eine Aufgabe sein, man müsste etwas erledigen, vielleicht auch auf eine Prüfung lernen, und man läuft vor der Wahrheit davon, beschäftigt sich, lenkt sich ab, und doch taucht es immer wieder auf: eigentlich müsstest du . . . Oder eine solche Wahrheit kann eine Erkenntnis sein, vor der man sich versteckt. Beispielsweise, dass ein vertrauter Mensch einen belügt. Man will es nicht wahrhaben und verschließt die Augen. Wenn man von einer solchen Wahrheit gefunden wird, ist es oft bitter und schmerzhaft, aber die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen macht alles nur schlimmer. Man ist dann vielleicht enttäuscht, aber Ent-Täuschung bedeutet eben, von einer Täuschung befreit zu werden. Die Beispiele sollen zeigen, dass es Situationen gibt, in denen man von einer Wahrheit geradezu gesucht wird. Suchen kann aber nicht etwas, nur jemand. Ist das nicht eine Spur, dass da ein Größerer ist, der uns sucht, der uns befreien will, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist?

Manchmal gibt es Momente im Leben, in denen man das Gefühl hat, es passt einfach. Man findet einen neuen Freund, eine Aufgabe oder eine Arbeitsstelle. Aber gehört hier nicht auch die Erfahrung dazu, dass ich gefunden worden bin? Dass es so scheint, als habe die Aufgabe mich gesucht und nicht ich sie, oder als habe der neue Freund mich gefunden — obwohl er doch auch nicht gesucht hat. Irgendwie ist das Gefühl da, man sei gefunden worden, auch wenn nicht so klar ist, von wem. Ist das nicht auch wieder eine Spur Gottes, der uns sucht?

Klar, hier kann man natürlich einwenden: Das ist eine Einbildung, das ist alles ohne Gott erklärbar usw. Das ist heute längst üblich geworden — aber wer sagt, dass es wahr ist? Warum trauen wir unserer Intuition, unserem unmittelbaren Eindruck nicht? Es ist, als ob diese Wahrheit mich sucht. Es ist, als ob diese neue Aufgabe mich gefunden hat. Da ist einer, der mich sucht. Wenn wir all das leugnen, leugnen wir am Ende den Menschen, der nicht anders kann, als Sinn in seinem Leben zu suchen. Dann bliebe nur eine Mensch-Maschine übrig, die gespeist, getränkt und gelegentlich repariert werden muss, damit sie weiterhin funktioniert. Aber woher kommen dann all diese Fragen, die wir haben: nach dem Sinn des Lebens, nach Liebe, Hoffnung und Vergebung?

Jeder Mensch steht irgendwann und irgendwie vor der Frage: wer bin ich eigentlich? In Krisenzeiten vielleicht ausdrücklich — beispielsweise nach dem Verlust des Partners —, sonst eher zwischen den Zeilen. Oft ist diese Frage anstrengend, weil ich keine rechte Antwort weiß, weil vielleicht eine Veränderung notwendig wäre, vor der ich mich fürchte. Und doch kann ich die Frage nicht recht abschütteln, ich kann sie betäuben, möglicherweise irgendwann endgültig, aber es bleibt dann eine künstliche, irgendwie unechte Situation. Warum kann ich als Mensch diese Frage so schlecht abschütteln? Ich kann doch schweigen, die Frage ignorieren, warum geht das so mühsam? Weil es im Letzten nicht stimmt, dass nur ich mich frage, wer bin ich, sondern zuerst ist da ein anderer, der fragt: wer bist Du? Einer, den ich nicht einfach abstellen, nur verdrängen kann. Es ist Gott, der mich sucht, der nicht aufhört, mich zu fragen: wer bist du?

Es ist heute schwer, mit unserer Botschaft noch Gehör zu finden. Glaubende und solche, die dem Glauben fernstehen, driften immer weiter auseinander. Was uns berührt — dass Gott barmherzig ist und uns Menschen nicht aufgibt —, löst bei anderen nur ungläubiges Staunen aus — im wahrsten Sinne des Wortes. Doch es gibt die Spuren Gottes, der uns sucht. Es gibt die Wahrheiten, vor denen wir Menschen uns manchmal verstecken, weil es so aussieht, als würden sie uns regelrecht suchen. Es gibt die Erfahrung, dass eine Aufgabe mich irgendwie gefunden hat, nicht ich sie. Es gibt die Erfahrung, dass ich die Frage „wer bin ich?“ nicht los werde, so als ob ein anderer mich fragt: wer bist du? Suchen kann allerdings nicht etwas, sondern jemand. Da ist Gott, der mich sucht, der mich nicht zurück lässt.