Barmherzigkeit Gottes heißt nicht „Leb’, wie du willst!“

4. Fastensonntag (Lesejahr C; Lk 15,1-3.11-32)

Endlich zeigt es einer mal den Pharisäern, den Heuchlern und Selbstgerechten! So empfindet wohl mancher, wenn er das heutige Evangelium hört. Jesus stellt sich an die Seite der Sünder, ohne Berührungsängste lebt er Barmherzigkeit. Es ist ja schön, wenn das Evangelium so noch in der Lage ist, einen Nerv zu treffen, aber m.E. wird hier meist etwas Wesentliches übersehen. Die Barmherzigkeit, die Jesus lebt und die uns das Evangelium überliefert, heißt nicht: „Toll, dass du lebst, wie es dir gefällt, mach’ ruhig so weiter.“ Die Botschaft des verlorenen Sohnes heißt eher  „Ändere dein Leben, richte dich auf Gott aus!“ Das ist die Forderung Jesu. Aber wie geht das? Woran erkenne ich, dass ich auf einem falschen Weg bin? Holt Gott mich zurück?

Das Evangelium des heutigen Sonntags überspringt einen Teil. Jesus erzählt als Antwort auf die Kritik der Pharisäer drei Gleichnisse: vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn. Alle drei haben die gleiche Sinnspitze: die Freude des Himmels über den Sünder, der umkehrt. Das Schaf kann dies nicht allein, es braucht den Hirten, es kann keinen Irrtum einsehen, die Drachme schon gar nicht, sie hüpft nicht von allein wieder in den Geldbeutel, als Jesus aber im dritten Gleichnis — auf das gewissermaßen alles zuläuft — von einem Menschen spricht, da wird der Sohn nicht zurückgeholt, er muss selbst einsehen, dass er auf dem falschen Weg ist, erst als er schon umgekehrt ist, sich auf dem Weg nach Hause befindet, kommt ihm der Vater entgegen. Der Sünder muss selbst umkehren, nichts und niemand kann seine Einsicht, seinen Entschluss ersetzen — auch in der Seelsorge müssen wir diesen Gedanken beherzigen. Viel ist heute die Rede von einer nachgehenden Seelsorge, es ist sicher gut und richtig, dass wir uns um die Menschen bemühen, aber ich kann niemanden einfach zurückholen, er muss in sich gehen und umkehren — wie der verlorene Sohn Dann ist uns verheißen, dass Gott uns entgegenkommt und in seine Arme schließt. Wie aber komme ich nun zu dieser Einsicht? Woran merke ich, dass ich auf dem falschen Weg bin?

Es gibt Situationen, in denen eine solche Einsicht mit Händen zu greifen ist. Man läuft — bildlich gesprochen — gegen eine Wand und muss schmerzhaft erfahren, dass es auf diesem Weg nicht weitergeht. Oft genug gibt es aber Situationen, die längst nicht so klar sind, in denen man sich quält mit der Frage, was man tun soll, welcher Weg der richtige ist. Meiner Erfahrung nach kommt es dann immer wieder vor, dass einem jeden Tag neue Argumente einfallen, dass der Weg, auf dem man ist, der richtige ist, während für einen anderen Weg nur wenige Argumente sprechen. Da ist Vorsicht geboten! Je häufiger mir für einen Weg neue Argumente einfallen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Weg falsch ist. Ein solcher Fall könnte sein, wenn man überlegt, ob man sich bei einem anderen Menschen entschuldigen soll. Dafür spricht eigentlich nur das Argument, dass man den Eindruck hat, dass man überreagiert hat, vielleicht auch lieblos war. Dann fallen einem täglich neue Argumente ein, warum man eigentlich doch recht hatte, dass der andere auch nicht nett war, dass man es nur gut gemeint hat usw. Hier wäre eine Entschuldigung wahrscheinlich einfach der saubere und richtige Weg.

Das Leben ist äußerst selten in einem schlichten Sinne eindeutig, es gibt beinahe immer Argumente für beide Seiten, die allermeisten Entscheidungen beruhen auf einer Mischung aus Klarheiten und Unklarheiten. Meist neigt man dann dazu, den richtigen Weg da zu vermuten, wo mehr Klarheit ist. Da kennt man sich aus, da weiß man — mehr oder weniger —, was auf einen zukommt. Doch so einfach ist es nicht. Mehr Klarheit als Unklarheit ist kein sicheres Zeichen für den richtigen Weg — manchmal eher das Gegenteil. Unter Umständen bin ich gefordert, einem anderen zu helfen, ein Talent zu entdecken und zu entfalten und dieser Weg bringt viele Unsicherheiten und auch Unklarheiten mit sich, während der gewohnte Weg eben Vertrautes und damit Klarheit bietet. Tertullian, ein Theologe der frühen Kirche, hat einmal bemerkt: Christus hat nicht gesagt: ich bin die Gewohnheit, sondern: ich bin die Wahrheit.

Jeder von uns hat bestimmte Aufgaben und erfüllt auch im Alltag unterschiedliche Rollen — als Vater oder Mutter, in Beruf und Freizeit. Dass ich mich da unterschiedlich verhalte, ist normal. Doch je mehr  Aufwand ich brauche, um das, was ich vor anderen sage und lebe, noch mit dem, was ich eigentlich glaube und denke, zusammenzubringen, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich auf einem falschen Weg bin. Manchmal vertritt man eine Meinung besonders lauthals, nicht um andere zu überzeugen, sondern viel eher sich selbst. Je mehr ich Aufwand treiben muss, um mich selbst quasi von dem zu überzeugen, was ich anderen gegenüber vertrete, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich auf dem falschen Weg bin.

Ja, im Himmel herrscht Freude über einen Sünder, der umkehrt. Die Menschwerdung Gottes in Jesus zeigt, wie sehr Gott unsere Nähe sucht, doch jede Umkehr muss in Freiheit geschehen, niemand kann einem anderen die Einsicht und den Entschluss dazu abnehmen. Was ich formuliert habe, sollen Faustregeln sein, die beim Nachdenken über den richtigen Weg vielleicht helfen können. Je häufiger mir für einen Weg neue Argumente einfallen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Weg falsch ist. Mehr Klarheit als Unklarheit ist kein sicheres Zeichen für den richtigen Weg,- manchmal sogar eher das Gegenteil. Je mehr  Aufwand ich brauche, um das, was ich vor anderen sage und lebe noch mit dem, was ich eigentlich glaube und denke, zusammenzubringen, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich auf einem falschen Weg bin. Möge der Herr uns seinen Geist geben, damit wir uns richtig entscheiden.