Wir werden angezogen von dem, was vorübergeht, sehnen uns aber nach dem, was bleibt

4. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr C; Apg 13,14.43b-52; Joh 10,27-30)

Alles irgendwie schon mal gehört, nichts Aufregendes, nichts, an dem man hängen bleibt. Geht es ihnen mit Bibeltexten manchmal auch so? Paulus und Gefährte missionieren, stoßen auf Widerstand, aber dann finden doch viele zum Glauben. Jesus ist der Gute Hirte, und irgendwas war noch mit ewigem Leben — ach ja und: „Meine Schafe hören auf meine Stimme“. Aber hören wir wirklich noch? Plätschert das nicht alles — zumindest viel zu oft — an uns vorbei? Lohnt es sich überhaupt zuzuhören?

Wenn wir darüber nachdenken, scheint mir entscheidend zu sein zuzugeben, dass es eben nicht immer einfach ist zuzuhören — und ich meine nicht einfach, weil man zu müde ist oder von Sorgen abgelenkt, nein, weil man all diese Geschichten tausendmal gehört hat und einfach keinen Ansatzpunkt findet, inwiefern das Ganze mit dem eigenen Leben etwas zu tun haben könnte. Mir geht es manchmal bei der Predigtvorbereitung so, dass ich an bestimmten Stellen hängen bleibe, dass so etwas wächst und eine Predigt entsteht. Manchmal geschieht eben auch das Gegenteil, dass der Text an mir vorbei gleitet, fremd und gleichgültig bleibt. Wenn ich die Bibel als Heilige Schrift ernst nehmen will, muss ich eben auch diese Erfahrung eingestehen: Manchmal bleibt das Gehörte fremd, plätschert an mir vorbei.

In unserer Zeiten ist es m.E. unumgänglich auch die grundsätzliche Frage zu stellen: lohnt es sich überhaupt zuzuhören? Mancher würde uns heutzutage süffisant entgegenhalten: klar langweilt euch das alte Zeug, es hat ja auch keine Bedeutung mehr, es ist überholt. Das Spannende — vielleicht auch Ironische — daran ist, dass sich hier die Haltung der Menschen im Laufe der Geschichte ins Gegenteil verkehrt hat. Heutzutage ist das Alte das Langweilige, das in immer kürzeren Abständen durch Neues, noch Spannenderes abgelöst werden muss, schon allein der Versuch eine zwei Jahrtausende alte Botschaft zu verkünden wirkt da auf viele lächerlich. Zur Zeit der ersten Christen war es genau umgekehrt. Da war das Alte das Anerkannte, weil es eben das Geprüfte, durch viele Generationen hindurch Bewährte war. Das Alte war das, was die Götter oder Gott den Menschen zu Beginn anvertraut hatten — oder doch daran erinnerte. Das Neue war das Gefährliche, das Unbekannte, das Falsche. Während heute mancher verzweifelt versucht, zu zeigen, wie wahnsinnig modern das Christentum doch eigentlich ist oder sein könnte, mussten die ersten Christen zeigen, dass das Christentum so neu eigentlich gar nicht ist. In der Auseinandersetzung mit den Juden zitiert Paulus in der Lesung aus der Apostelgeschichte das Alte Testament: „Ich habe dich zum Licht für die Völker gemacht, bis an das Ende der Erde sollst du das Heil sein.“ So will er nachweisen, dass die Botschaft des Evangeliums, die sich an alle Menschen richtet, eben keine neue Erfindung ist, sondern Erfüllung einer alttestamentlichen Prophezeiung. An einer anderen Stelle, als er sich in Athen mit heidnischen, also nichtjüdischen Griechen auseinanderzusetzen hat, weist Paulus darauf hin, dass in ihrer Stadt ein Altar für einen unbekannten Gott existiert. Was Paulus ihnen verkündet, ist also nichts komplett Neues, sondern die Erfüllung einer alten Ahnung. Klar ist, wir können den Zeitgeist nicht drehen, aber vielleicht doch — mitten in dieser Gier nach Neuem — einen Anstoß mitnehmen: Wenn es wirklich — ich formuliere bewusst zurückhaltend — Gott oder das Göttliche gibt, ist es dann ernsthaft anzunehmen, dass meine neueste Idee oder die neueste Idee jemandes anderen die göttliche Offenbarung ist? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass die Spuren des Göttlichen gerade in dem zu finden sind, was Menschen vor mir durchlebt, durchdacht und auch durchlitten haben, weil Gott sich an alle Menschen wendet, auch an die früherer Zeiten?

Ich glaube, wir können noch etwas tiefer gehen. Eine alte Erfahrung des Religionslehrers ist, dass wir Menschen immer auf das schauen, was sich bewegt. Wenn Bewegung im Raum ist, weil man Arbeitsblätter herumgehen lässt, darf man nicht erwarten, dass einem in diesem Moment jemand zuhört. Das gilt in allen Zusammenhängen — übrigens auch in der Liturgie: wo Bewegung ist, da schauen die Menschen hin. Das, was sich bewegt, das, was vorübergeht, das ist das Spannende — im doppelten Sinne des Wortes. Es ist das, was im wörtlichen Sinne vorüber-geht, es bewegt sich in meinem Blickfeld, es geht aber auch vorüber in dem Sinn, dass es bald wieder vergangen ist. Das ist das Problem des Menschen. Wir werden angezogen von dem, was vorübergeht, aber wir sehnen uns nach dem, was bleibt. Wir wollen bleibende Zueignung, bleibenden Sinn. Wenn wir das verstanden haben, dann ist es doch sinnvoll, auf das Bewährte, das, was sich als Bleibendes gezeigt hat, zu hören — auch wenn es nicht automatisch unsere Aufmerksamkeit fesselt.

Wie also kann es gelingen? Wie gesagt — zunächst muss man sich eingestehen, dass ein Text auch einmal fremd, fern und gleichgültig wirkt. Der heilige Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens und ein großer Kenner der menschlichen Seele, hat empfohlen, sich sozusagen als Teilnehmer in die Geschichte zu stellen. Ich bin der, der Paulus zuhört. Verstehe ich die Eifersucht der alteingesessenen Juden, bin ich einer von ihnen? Das Heil gehört uns, nicht dahergelaufenen Heiden! Oder bin ich einer der Heiden, der sich freut, dass Gott auch ihn annimmt — oder bleibe ich skeptisch auf Abstand? Auf das Evangelium bezogen: Spricht Jesus zu mir? Will ich zu seiner Herde gehören, oder fühle ich mich so eingeengt? Oder erfahre ich die Zusage, dass ich behütet bin, dass kein Scheitern in dieser Welt endgültig ist, dass mir ewiges Leben versprochen ist? Und plötzlich ist vielleicht doch Bewegung in den Texten.

Manchmal ist es nicht so leicht zuzuhören. Die biblischen Texte plätschern vorbei, einerseits altbekannt, andererseits fremd, ohne Bezug zu mir. Gerade unsere Zeit verlangt nach dem Neuen, Spannenden — und doch: Wir Menschen werden angezogen von dem, was vorübergeht, sehnen uns aber eigentlich nach dem Bleibenden. Was vorübergeht, tut dies im doppelten Sinne: es bewegt sich, zieht Aufmerksamkeit auf sich, aber ist eben auch bald vergangen. In der Heiligen Schrift begegnet uns das Bleibende. Jesus sagt: „Ich gebe ihnen ewiges Leben.“