Mündiger Bürger UND Christ?

5. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Jes 6,1-2a.3-8; Lk 5,1-11)

Einst bestanden Zweifel, ob es Deutschland je schaffen wird, eine demokratische, freiheitliche Tradition zu entwickeln, die vergangenen beinahe siebzig Jahre seit Inkrafttreten des Grundgesetzes zeigen, dass wir solche Zweifel widerlegen konnten. So seltsam es vielleicht zunächst klingt, diese demokratische Tradition scheint eine der Schwierigkeiten zu sein, denen der christliche Glaube in unserem Land begegnet. „Von jetzt an wirst du Menschen fangen“, sagt Jesus zu Petrus, als er ihn beruft. Das Bild des Menschenfischers — genauso wie das Bild des Hirten und der Herde — löst bei Menschen unserer Zeit eher Kopfschütteln aus. Über Jahrzehnte ist in unserer Gesellschaft das Ideal des mündigen Bürgers entstanden, aber im Raum des Glaubens soll ich das aufgeben, indem ich wie ein Fisch gefangen werde oder mich wie ein Schaf in die Herde ein- und dem Hirten unterordnen soll? Kann man als mündiger Bürger des 21. Jahrhunderts noch Christ sein?

Wenn in unserer Zeit die Frage nach Gott überhaupt noch gestellt wird, stellt sich mir gelegentlich die Frage, was die meisten da überhaupt meinen, wenn sie „Gott“ sagen. Auch wenn ich bestreite, dass es Gott gibt, wenn ich zweifle, überlege, ob es Gott gibt, muss ich doch eine Vorstellung davon haben, was dieses Wort meint. Für viele scheint das eher eine irgendwie größere, aber letztlich unverbindliche Macht zu sein. Auch wer nicht an Gott glaubt, auch wer zweifelt, muss doch sehen, dass das Wort etwas anderes bedeutet. Gott ist der Allumfassende, Ewige, all unsere Schubladen Sprengende, der Kleinste und Größte zugleich, der Heilige schlechthin. Und in seinem Angesicht wollen wir mündige Bürger sein? Das klingt lächerlich. Ein anderer Geist weht da in den biblischen Texten. „Weh mir, denn ich bin verloren“, klagt Jesaja, als er eine Vision Gottes hat. Und auch Petrus sagt: „Geh weg von mir“, als er die göttliche Gegenwart in Jesus voll Schrecken erkennt. Doch in beiden Texten geschieht etwas Wunderbares. Ein Engel berührt den Mund des Jesaja mit glühender Kohle, so dass er rein wird und antworten kann. Vielleicht sollte man sagen: damit er mündig wird — im ganz wörtlichen Sinne. Und Jesus sagt zu Petrus: „Fürchte dich nicht!“, denn er hat eine Aufgabe für ihn. Vor dem ewigen Gott sind wir aus eigener Kraft eben nicht mündig, aber er macht uns dazu. Der Gott, an den wir glauben, ist keiner, der in einem schlichten Sinne Unterordnung erwartet, er, vor dessen heiliger Allgewalt wir eigentlich nichts zu bestellen haben, macht uns mündig, will, dass wir seinem Ruf in Freiheit antworten. Das Bild des Menschenfischers will nicht die Menschen zu stummen Fischen machen, sondern dem Fischer Petrus eine neue Aufgabe geben.

Ich räume gern ein, dass die ursprüngliche Frage trotzdem noch offen ist. Liegt das Problem nicht später? Nun gut, ich treffe die Entscheidung freiwillig, mich auf den christlichen Glauben einzulassen, aber muss ich dann nicht alle Mündigkeit abgeben — zumindest theoretisch, indem ich mich der christlichen Wahrheit unterwerfe, die mir sagt, wie ich leben soll? Tatsächlich ist es ja so, dass der, der heute versucht als Christ zu leben, Mündigkeit und Selbständigkeit beweist, indem er — jedenfalls in den allermeisten Fällen — gegen den Strom schwimmt. Auch ist der Glaube kein Gefängnis, aus dem ich nicht mehr rauskomme. Als Christ zu leben, erfordert gewissermaßen täglich — bewusst oder wahrscheinlich eher unbewusst — die Entscheidung eben dies zu tun, keiner zwingt mich dabeizubleiben, im Gegenteil: die meisten würden eher applaudieren, wenn auch ich „diesem Laden“ den Rücken kehre. Doch der Anspruch bleibt und soll auch keineswegs wegdiskutiert werden: als Christ soll ich mein Leben an der höheren Wahrheit ausrichten, wie sie mir in Jesus begegnet. Dieser Stachel im Fleisch bleibt, egal wie ich es drehe.

Ist es aber im Leben nicht so — wenn ich nach Sinn suche —, dass ich im besten Falle bei etwas wahrnehme: das ist meins, das kann ich, das mache ich gern? Ich spüre, dass es sinnvoll ist, dabeizubleiben, auch wenn es Mühe macht — eben weil es „meins“ ist. Diese Erfahrung macht deutlich, dass Sinn mit einer bestimmten Vorstellung von Freiheit nicht gefunden werden kann. Immer geht es darum, gewissermaßen einen Ruf zu hören, der mich verpflichtet. Diese Einsicht mag uns für den Glauben bereiten: für den Herrn, der uns ruft. Diese Verpflichtung zu finden, diesen Ruf zu hören widerspricht der Freiheit nicht, sondern erfüllt sie.

Nicht umsonst wird Wahrheit immer wieder mit dem Bild des Lichtes beschrieben. Sie leuchtet ein, enthüllt, macht einsichtig. Christlicher Glaube heißt gewiss, sich unter die höhere Wahrheit zu stellen, die uns in Christus begegnet. Wo Wahrheit im tiefsten Sinne einsichtig wird, da geht es dann gar nicht mehr darum, sich durch Mündigkeit zu behaupten, sondern der Weg ist klar, da geht es nicht um Freiheit oder um Abhängigkeit, sondern es wäre unsinnig zu bestreiten, was doch klar vor einem liegt. Ein Bild dafür mag das Lernen sein. Man müht sich etwas einzusehen, ringt um seine Selbständigkeit, ich will etwas begreifen, nicht nur gehorchen — und irgendwann platzt der Knoten, und es ist ganz einfach: man sieht den Weg, es geht nicht mehr um Befehl und Gehorsam, sondern alles ist klar. Ich weiß, dass das ein hohes und in diesem Leben nie zu erreichendes Ziel ist, aber eben das muss das Ziel sein, wenn wir uns unter die Wahrheit Christi stellen: dass sie wahrhaft einleuchtet — jenseits von Befehl und Gehorsam, Freiheit und Abhängigkeit.

Gott selbst schenkt uns, vor ihm mündig zu sein. Er will, dass wir seinen Ruf in Freiheit annehmen. Ist es im Leben nicht so, dass ich letztlich bei etwas wahrnehme: das ist meins, das mache ich gern? Immer geht es darum, gewissermaßen einen Ruf zu hören, der mich verpflichtet. Diese Einsicht mag uns für den Glauben bereiten: für den Herrn, der uns ruft. Wenn ich mich mich unter seine Wahrheit stelle, soll diese einsichtig werden, da geht es dann letztlich nicht mehr darum, sich durch Mündigkeit zu behaupten, sondern der Weg wird klar, es geht nicht um Freiheit oder um Abhängigkeit, sondern es wäre unsinnig zu bestreiten, was doch klar vor einem liegt. Gebe der Herr, dass seine Wahrheit uns immer mehr einleuchtet.