Niemand hat seine Kraftquellen ausschließlich in dieser sichtbaren Welt

Ist das nicht ein bisschen zu einfach? Das ist der erste Gedanke, der mir angesichts der alttestamentlichen Lesung und des Evangeliums durch den Kopf geht. Der, der sich auf den Herrn verlässt, ist wie ein blühender Baum, ist ohne Sorge, dem anderen geht es schlecht. Und auch Jesus preist ohne Umschweife die Armen selig und droht den Reichen. Hier tauchen zwischen den Zeilen allerdings schon Zweifel auf. Es ist also doch nicht so einfach, warum sind die, die auf Jesu Seite stehen, die Verlierer, denen er offenbar Mut machen muss? Wir begegnen hier einer religiöse Grundfrage schlechthin: warum geht es den Glaubenden, die auf Gott vertrauen, oft so schlecht, während es den anderen so gut geht?

Die meisten sind wohl eher an die Version der Seligpreisungen gewohnt, wie sie bei Matthäus begegnet und die an Allerheiligen vorgetragen wird. Diese ist ein bisschen ausführlicher, vielleicht kann man auch sagen: geschmeidiger. Hier scheint es ein wenig holzschnittartiger zuzugehen: selig die Armen, weh euch ihr Reichen — doch das gilt nur für den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Jesus hier eine ganz konkrete Situation anspricht, die wohl auch für die ersten christlichen Gemeinden galt. Inmitten einer großen Menge spricht Jesus ganz ausdrücklich seine Jünger an. Sie sind die Armen, die verfolgt, ausgeschlossen werden — denn darin gipfeln seine Seligpreisungen: „Selig . . . wenn sie euch ausstoßen . . . um des Menschensohnes willen“, d.h. um Jesu willen. Der Glaubende muss damit leben, dass ihm widersprochen wird, Jesu Worte sind eine Verheißung, letztlich wird er den Sieg davon tragen. So erscheint auch der Text aus dem Buch Jeremia in neuem Licht: „Gesegnet der Mensch, der auf den Herrn vertraut“ — auch dies kann als eine Verheißung, als ein Segenswunsch verstanden werden.

Aufgrund dieser Einsicht lässt sich die Eingangsfrage nochmals neu formulieren: warum muss der Glaubende so viel Widerspruch ertragen, warum geht das Leben in dieser Welt dem Glaubenden oft nicht so geschmeidig von der Hand? Weil Glauben bedeutet, dass das Eigentliche meines Lebens nicht in dieser sichtbaren, mit meinen Sinnen erfahrbaren Welt liegt, meine eigentliche Kraftquelle liegt jenseits dieser Welt — in Gott. Wer ganz in dem aufgeht, was man mit den Sinnen erfassen kann, wer — wie gelegentlich gesagt wird — nur an das glaubt, was er sieht, hat da in gewissem Sinne einen Vorteil, steht eindeutiger in dieser Welt, muss sich möglicherweise mit manchen Fragen nicht belasten, kann achselzuckend als Zufall abtun, was den Glaubenden belastet. Wenn ich glaube, dass das Eigentliche meines Daseins nicht in dieser sichtbaren Welt ist, erzeugt das natürlich eine Spannung, die manchmal zur Last wird. Dies kann aber auch zu Missverständnissen führen, die ich an dieser Stelle ausräumen möchte. Wenn ich glaube, das Eigentliche meines Lebens und meine Kraftquelle liegen nicht in dieser sichtbaren Welt, so heißt das nicht, dass diese sichtbare Welt etwas Schlechtes oder Schmutziges ist. Es heißt auch nicht, dass sie eine flüchtige Täuschung ist, wie es der Buddhismus lehrt. Im Gegenteil: Gott sah alles an, was er gemacht hatte, es war sehr gut — so heißt es im ersten Buch der Bibel über die Schöpfung. Diese sichtbare Welt vergeht — wer kann das bestreiten —, doch sie hat eine bleibende Würde, eben weil sie ihren bleibenden Halt in der Unvergänglichkeit, in Gott hat. Diese Spannung macht also unsere Welt nicht klein, sondern gibt ihr bleibende Würde und bleibenden Halt.

Doch der Widerspruch, von dem Jesus seinen Jüngern gegenüber spricht, bleibt auch Wirklichkeit, und wir erfahren ihn in unserer Zeit in besonderem Maße. „Gesegnet der Mensch, der auf den Herrn vertraut . . . er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist.“ Wie kann man ernsthaft behaupten, es gebe etwas jenseits der greifbaren Wirklichkeit, wie kann man sagen, man habe eine Kraftquelle außerhalb der sichtbaren Welt? Ein bisschen zugespitzt möchte ich antworten: Niemand hat seine Kraftquellen nur in dieser sichtbaren Wirklichkeit. Woher nehmen denn Menschen ihre Kraft? Mancher erinnert sich an die Vergangenheit, an gute Tage, und sagt sich: das schaffe ich wieder. Oder er denkt an die Zukunft: Wenn ich das hinbekomme, wird es wunderschön. Der marxistische Philosoph Ernst Bloch wollte sogar eine Hoffnung ohne Gott aus solchen Zukunftsträumen begründen. Menschen, die nach einer Kraftquelle suchen, schauen also in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Aber ist das nicht Unsinn, wenn ich nur an die sichtbare Welt glaube? Die Vergangenheit ist vorbei, sie ist nicht mehr, und die Zukunft ist noch nicht. Gerade die Gegenwart sollte uns doch lehren, dass Zukunft oft genug anders ausfällt, als man erwartet. Auch wer in Vergangenheit und Zukunft nach Kraft sucht, sucht sie außerhalb der sichtbaren Welt.

Es gibt andere Kraftquellen, die vielen wichtig sind: das Zusammensein mit Familie oder guten Freunden, die Erfahrung von Musik und Kunst oder eine Wanderung in der Natur. Auch hier suche ich außerhalb der sichtbaren Welt. Damit es mit den Freunden eine gute Stunde wird, braucht es etwas, das wir nicht machen können, dass gewisse Etwas, die richtige Stimmung — wie immer man es formulieren mag. Auch die Erfahrung von Musik oder der Natur — als Glaubender sage ich: der Schöpfung — sind nicht nur physikalische Wahrnehmungen, als solche schenken sie keine Kraft, sondern Ahnungen eines Größeren, Ahnungen des Schöpfers. Gewiss sind auch andere Menschen oft Kraftquellen für uns, das soll gar nicht bestritten werden, aber es muss noch etwas dazukommen, die Gunst der Stunde, die Gnade des Größeren, den wir Gott nennen.

Als Glaubende sind wir davon überzeugt, dass das Eigentliche unseres Lebens und unsere eigentliche Kraftquelle nicht in dieser Welt liegen. Das heißt nicht, dass diese Welt etwas Schlechtes ist. Im Gegenteil: diese Welt vergeht — wer kann das bestreiten? Doch wir glauben, dass sie unvergängliche Würde und Halt hat — im unvergänglichen Gott. Doch dies führt auch zu Spannungen, man erntet Widerspruch, es ist auf den ersten Blick unkomplizierter sich scheinbar ganz auf diese Welt einzulassen. Doch niemand hat wohl seine Kraftquellen nur in dieser Welt. Ob er in Vergangenheit oder Zukunft sucht, in der Musik oder Natur, immer geht es um etwas, das sich nicht allein in der sichtbaren Welt erschöpft: es geht um Gott.