Das Gute lebt, wenn ich manchmal mehr tue, als ich müsste

7. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Lk 6,27-38)

„Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin“ — vielleicht ist dies das am wenigsten befolgte Gebot des Neuen Testaments. Es widerspricht dem unmittelbaren Gefühl, sich nicht zu wehren oder auch sich so auszunutzen zu lassen, dass man Geborgtes nicht zurückfordert. Soweit ich sehe, laufen diese — sagen wir: praktischen Beispiele im Wesentlichen auf zwei Gebote hinaus. „Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden . . . Gebt . . . Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß “ Es geht hier ganz offensichtlich nicht um Gerichtsprozesse, sondern um den Alltag, in dem wir andere be-urteilen, ja manchmal vielleicht auch verurteilen, ausschließen. Können wir überhaupt miteinander leben, ohne über einander zu urteilen? Wir realistisch ist es, dass wir in vollem, gehäuften Maß geben?

Ich weiß schon, wir leben heute in einer liberalen Gesellschaft, die stolz auf ihre Offenheit ist, dass jeder so leben kann, wie er will. Gewiss gibt es heute eine größere Bandbreite an Lebensentwürfen, und womit man sich früher ins gesellschaftliche Abseits manövriert hätte, ist heute eher modern. Ich will nicht in den üblichen kirchlichen Tonfall verfallen, der entweder über böse neue Zeiten klagt oder demütig allem hinterher hechelt, was modern ist, um zu zeigen, dass wir als Kirche so schlimm gar nicht sind. Ich will lieber genauer hinschauen. Mein Eindruck ist, dass Menschen heute genauso übereinander urteilen — nur eben anders, vielleicht mehr zwischen den Zeilen und auch vielfältiger, da gesellschaftliche Grenzen nicht mehr eindeutig festgelegt sind. Oft ist die angebliche Offenheit, die man dem anderen gegenüber zeigt, nur der beharrliche Versuch dem anderen das eigene Urteil aufzuzwingen. Ein persönliches Beispiel: als ich Priester werden wollte, bin ich auch manchem begegnet, der selbstverständlich offen und verständnisvoll war — wie es sich gehört —, mir aber gleichzeitig zu verstehen gab, dass man so etwas heutzutage natürlich unter keinen Umständen mehr werden könne. Das Urteilen über andere mag heutzutage offener und verständnisvoller daherkommen, es ist jedoch wie zu allen Zeiten vorhanden — und übrigens nicht weniger verletzend. Man mag jedoch mit einiger Berechtigung auch dagegenhalten, wir Menschen können gar nicht leben, ohne uns eine Meinung über andere zu bilden, ganz ohne Schubladen, in die wir die anderen stecken, wäre der Alltag zu kompliziert. Das stimmt natürlich, falsch wird es, wo wir die Schubladen so verschließen, dass der andere nicht mehr raus kann, wo wir nicht nur die Tat eines anderen kritisieren, sondern ihn als Menschen endgültig ab- und verurteilen. So weit so gut — warum tun wir das eigentlich? Warum müssen wir über andere urteilen?

Offenbar versucht der Mensch sich auf diese Weise zu schützen, er kann das, was er fürchtet beim anderen verorten: der ist so und so — egal ob es sich um das Böse handelt, das auch in einem selbst schlummert, um die Mutlosigkeit, die man bei sich selbst immer wieder fühlt, oder die Gleichgültigkeit, von der man weiß, dass sie eigentlich falsch ist. Der andere ist so, im Umkehrschluss heißt das: zum Glück ich nicht, das gehört zu ihm, glücklicherweise nicht zu mir. Gleichzeitig stellt der Mensch sich so über das, was er fürchtet und nimmt damit eine scheinbar mächtigere Position ein, indem er ja der ist, der urteilen kann. Wenn man es so ausspricht, zeigt sich von allein, wie unsinnig ein solcher Versuch ist. Ich glaube, dass für unser Innerstes ab einer gewissen Stufe gilt: je mehr ich mich schützen will, desto schutzloser bin ich. Ohne Zweifel ist es gut und richtig sein Innerstes zu schützen — in Zeiten sozialer Medien muss man das deutlich sagen —, aber wer meint, es könnte Rundumschutz geben, gerade indem man das, was man bei sich selbst fürchtet, bei anderen sieht und aburteilt, der irrt sich gewaltig. Wie kann man es besser machen?

Dies führt uns zum zweiten Gebot: Gebt in vollem, gehäuften Maß. Die Beispiele vom Hinhalten der Wange usw. sind wohl Veranschaulichungsmaterial für dieses Gebot. Paulus sagt es einmal so: Die Liebe schuldet ihr einander immer. Das Gebot einander beizustehen hat natürlich seine Grenzen in unseren Kräften und Möglichkeiten — aber nicht im Gebot selbst. Ich bin heute vom Helfen nicht befreit, weil ich schon eine gute Tat getan habe. Die Liebe schuldet ihr einander immer. So weltfremd Jesu Gebot zunächst klingt, so klar ist doch auch, dass der Kreislauf der Gewalt und des Bösen nicht durchbrochen werden kann, indem immer jeder zurückschlägt — im Kleinen wie im Großen. Jesus begründet die Güte, die er von seinen Jüngern verlangt, damit, dass Gott selbst der Gute schlechthin ist, der gibt ohne Ansehen der Person. So sehr wir uns gelegentlich schwertun, zu wissen, was genau in einer Situation das Gute ist, so klar ist doch, dass es das Gute gibt, das uns verpflichtet, leitet und Menschsein möglich macht. Schon der griechische Philosoph Platon hat erkannt, dass das Gute deshalb göttlich sein muss, es ist größer als wir, verpflichtet uns und wird von uns entdeckt, aber nicht gemacht. Jesus erinnert uns daran, was zum Wesen des Guten gehört: das volle, gehäufte, überfließende Maß, denn so ist Gott selbst. Wo es immer nur um das Angemessene geht, wo das Gute nur als Tauschgeschäft berechnet wird, da wird alles klein und berechnend, da stirbt das Gute. Zum Guten gehört, dass ich immer wieder einmal mehr gebe, als ich muss, dann bleibt es in mir lebendig: wenn ich gebe, wo ich nicht müsste, wenn ich vergebe, wo ein anderer hart bleibt.

Wir Menschen neigen dazu, über andere zu urteilen. Wir meinen uns so schützen zu können, indem wir das, was wir fürchten, beim anderen verorten. Der ist so — das heißt im Umkehrschluss: ich zum Glück nicht. Was für ein Irrtum. Jesus zeigt, wie es anders geht. Das Wesen des Guten ist, dass es nicht nur Tauschgeschäft ist, sondern immer wieder überfließendes Maß, mehr, als man tun müsste. Wo wir das vergessen, stirbt das Gute. Das ist das beste Rezept gegen das Urteilen und für das Gute: ein freundliches Wort, wo man nicht damit rechnet, ein offenes Ohr, wo man sonst verschlossen bleibt.