Rituale ohne Gott stiften keinen tieferen Sinn

Fronleichnam 2019 (Lesejahr C; 1 Kor 11,23-26)

Wenn vor 60 Jahren jemand am Sonntag nicht in der Kirche war, fragte man ihn am Montag: Warst du krank? Wenn heute jemand am Sonntag in der Kirche war, fragt man ihn am Montag: Bist du krank? Diese kleine Anekdote wirft — zugegebenermaßen ein wenig zugespitzt — ein bezeichnendes Licht auf unsere Situation. Auch die Mehrheit der Kirchenmitglieder kann mit der sonntäglichen Eucharistie nichts mehr anfangen. Sie erscheint als überflüssig, ja als Fessel, die die freie Gestaltung dieses kostbaren Tages einengen will. Da wir heute die Einsetzung der Eucharistie feiern, scheint mir beinahe unumgänglich, diese Frage zu stellen: Was bedeutet die Eucharistie? Oder genauer: Was kann sie einem Menschen unserer Zeit bedeuten?

Die Eucharistie ist ein Ritual, und Rituale gehörten und gehören zum Menschen dazu — auch heute. Ein Ritual meint ein regelmäßiges, besonders hervorgehobenes Tun. Da ist es dann für manche Familien das gemeinsame Sonntagsfrühstück, das den Kirchgang ersetzt hat, oder es sind bestimmte Begrüßungsrituale, die die Zugehörigkeit zu einer Gruppe anzeigen, oder man denke an den Schüler bzw. Student, der am Morgen vor Prüfungen immer dasselbe macht usw. Rituale geben Stabilität und dem Leben Sinn und Bedeutung. Letzteres zeigt sich besonders bei herausgehobenen Ritualen, die Lebensübergänge begleiten, beispielsweise Hochzeiten. Gerade diese werden immer aufwändiger gestaltet. Doch ein Unterschied zu vergangenen Zeiten wird augenfällig. Während einst Rituale — jedenfalls die entscheidenden — einen religiösen Hintergrund hatten, fehlt dieser immer häufiger. Gerade bei Hochzeiten kann man die Faustregel aufstellen: je aufwändiger die Hochzeit, desto geringer der religiöse Bezug. Warum ist das so? Das Besondere am Ritual war, dass es gewissermaßen den Menschen nach oben, zum Göttlichen öffnet, dass es deutlich macht, dass der Mensch nicht allein im Leben steht, sondern von Gott getragen und bejaht ist — gerade so hat sein Leben Sinn, einen Sinn, der nicht einfach machbar ist, der manchmal verborgen, aber in Gott Wirklichkeit ist. Ohne Gott ist es mühsam, ich muss das Ritual immer aufwändiger machen, für Aha-Effekte sorgen — die die eigentliche Leere übertünchen sollen. Warum soll ein solche Ritual ohne Gott meinem Leben Sinn und Bedeutung geben? Welche tiefere Bedeutung verleihen allein teure Kleidung und teures Essen meinem Leben? Ein Ritual ohne Gott bleibt leer und oberflächlich — ich frage mich immer wieder: wie kann man das nur übersehen?

Ein weiterer Beweggrund für Rituale scheint mir der Wunsch nach Verwandlung zu sein. Ein einfaches, vielleicht etwas ungewöhnliches Beispiel: Bei Trauungen bin ich meist froh, dass es ein Brautkleid gibt, so kann ich die Braut leichter erkennen. Das mag Ihnen ungewöhnlich erscheinen, aber ansonsten habe ich das Brautpaar nur in legerer Kleidung nach deren Feierabend gesehen. Nun aber gestylt, ja regelrecht verwandelt sieht das Brautpaar ganz anders aus. Auch Abiturienten legen ja heute bei der Feier ihres Abschlusses wieder mehr Wert auf festliche Kleidung, was noch vor Jahrzehnten unter Schülern als reaktionär galt. Doch wenn man diese Sehnsucht nach Verwandlung genau anschaut, zeigt sich ein besonderer Kern: es geht eigentlich nicht um Verwandlung in einen anderen, sondern darum in einem tieferen Sinne man selbst zu werden, ein Selbst, das Sinn und Bedeutung hat. In den Märchen ist oft manche tiefe Sehnsucht des Menschen aufbewahrt, da wird auch oft einer verwandelt — aber am Ende in sein eigentliches Ich, der Frosch wird zum König. In der Wirklichkeit klappt das so nicht, am Ende bleibt man nicht in der festlichen Kleidung, der Alltag kommt wieder — und dann?

So sind wir doch bei der Eucharistie angelangt, sie ist das Ritual mit Gott — und auch in einem einzigartigen Sinne das Ritual der Verwandlung. „Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis!“, sagt Jesus, wir haben es in der zweiten Lesung gehört. Jesus, der menschgewordene Gott wandelt Brot und Wein, ja wandelt — in gewisser Weise — sich selbst in Brot und Wein hinein, nicht in einem äußeren, chemischen Sinne, sondern im Sinne einer tieferen Wirklichkeit. Durch diese Wandlung wird Jesus nicht ein anderer, sondern er offenbart, zeigt, wer er, wer Gott im tiefsten Sinne ist: der Gebende und Schenkende, der auch unser Leben nährt und erhält. Zur Sehnsucht des Menschen in den herausgehobenen Ritualen gehört die Wandlung, die nicht einen anderen aus mir macht, sondern mein Eigenstes freilegt, zeigt, wer ich wirklich bin. In den Ritualen ohne Gott, die unsere Gesellschaft mehr und mehr prägen, bleibt das eine Illusion, eine Maskerade ohne tiefere Wirklichkeit. Hier ist es Wirklichkeit. Brot und Wein werden Leib und Blut Christi und zeigen so, wer Gott ist: der bedingungslos Liebende, der unser Leben nährt und trägt. Wir sind eingeladen, dieses Brot zu essen, seinen Leib zu empfangen und so selbst mehr und mehr verwandelt zu werden — in unser eigenstes Wesen.

Bieten wir allerdings nicht an dieser Stelle dem üblichen Vorwurf eine offene Flanke? Wo erleben wir denn solche Verwandlung? Oft wird uns vorgeworfen, dass die, die in die Kirche gehen, am schlimmsten über andere herziehen. Sagen wir vorsichtig, dass wir oft genug nicht besser sind als die anderen, jede Eucharistie beginnt nicht umsonst mit der Bitte um Gottes Erbarmen. Die Wandlung in Gott ist kein Zaubertrick, kein Automatismus, sondern ein inneres Geschehen, ein Mitgehen, ein Stärken durch den Herrn. Und fragen wir uns selbstkritisch, ob wir der Eucharistie überhaupt noch etwas zutrauen, ist sie nicht manchmal Gewohnheit, unbeachtetes, unbedachtes Ritual? Gewiss ist Gottes Handeln Geschenk, das nicht einfach herbeigebetet werden kann, aber er handelt nicht ohne unsere Offenheit, weil er Freiheit gewährt.

Ganz offenbar braucht der Mensch auch heute Rituale, die seinem Leben Sinn und Bedeutung geben, er sehnt sich nach Verwandlung in sein eigentliches Ich. Doch ohne Gott bleiben solche Rituale oberflächliche Maskerade ohne tieferen Sinn. Hier, in der Eucharistie wandelt der Herr selbst, aber er verwandelt sich nicht in einen anderen, sondern legt sein innerstes Wesen offen: als der bedingungslos Liebende, der auch uns nährt und trägt. Wir sind eingeladen, dieses Brot, das sein Leib ist, zu essen und uns so zu wandeln in unser eigentliches Ich.