Unsere Fähigkeit einander zuzuhören schwindet, weil der Glaube an Gott schwindet

St. Martin 2019 (Mt 25,31-40)

Gott ist die Liebe — so fasst mancher wahrscheinlich die Legende des heiligen Martin und das Evangelium, das wir gehört haben, zusammen. Gott ist die Liebe — dieser Satz steht sogar im Neuen Testament, doch so aus dem Zusammenhang gerissen besagt er weniger als „Das Gras ist grün“. Doch eben das ist ja offenbar attraktiv für die Menschen unserer Zeit, jeder kann sich so unter Gott oder der Liebe, die ja angeblich dasselbe sind, vorstellen, was er möchte. Auf diese Weise umgeht man auch die anstrengende und heute sehr unattraktive Vorstellung, dass es einen Gott gibt, der etwas von mir möchte. Doch eben davon handelt die Legende des heiligen Martin. Sie endet eben nicht mit der Mantelteilung, sondern danach erscheint ihm Christus im Traum als der Bettler und offenbart ihm das Wort des Evangeliums: „Was Du einem meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan.“ Gott bricht ein in das Leben des heiligen Martin und will, dass dieser ihn hört. Martin folgt diesem Ruf und lässt sich taufen. Was tun wir? Glauben wir noch an einen Gott, der in unserem Leben etwas zu sagen hat? Und wenn ja — könnten wir ihn im Gewirr der Stimmen überhaupt bemerken? Könnten wir ihn hören?

Ich glaube, das Problem beginnt schon mit dem Hören — nicht nur in unserer Gottesbeziehung, sondern im zwischenmenschlichen Bereich. Kann ich wirklich einem anderen zuhören, offen, ohne bestimmte Erwartung, so als ob das, was der andere sagt, ein Samenkorn ist, das bei mir auf guten Boden fallen will? Manchmal rauscht Gehörtes ohnehin schnell an einem vorbei, doch selbst wenn wir hören — so jedenfalls mein Eindruck — haben wir die Neigung, alles schon in Schubladen einzusortieren. Manches ist Information, vielleicht beruflicher Natur, das brauche ich einfach, manchmal geht es um die Beziehung zum anderen, Männern sagt man ja gemeinhin nach, in solchen Fällen nicht so gut zuzuhören. Oder es geht um Unterhaltung, man erfährt Neues, so nach dem Motto: Ach was, der hat sich auch von seiner Frau getrennt! Alles wird feinsäuberlich in die genannten Schubladen — oder andere — einsortiert. Es ist kein Hören im vollen Sinne des Wortes, denn ich gebe ja mit meinen Schubladen den Rahmen vor, der andere darf nur einen kleinen Beitrag leisten, der hineinpasst — und manchmal gilt wohl auch: was nicht passt, wird passend gemacht. Vielleicht will der andere zwischen den Zeilen was ganz anderes sagen, sucht einen Rat, aber bei mir kommt nur die Unterhaltung an: stell dir vor, was dem und dem passiert ist. Hören ist im tiefsten und letzten Sinne etwas anderes: es geht darum, offen zu sein, wirklich aufmerksam zu sein auf das, was der andere zu sagen hat. Es geht nicht darum, dass der andere sozusagen die von mir aufgezogene Schublade füllt, sondern dass das, was er sagen will, wie ein Samenkorn in mich fallen kann und möglicherweise Frucht bringt. Ich glaube fest, dass unsere Gesellschaft auch daran krankt, dass wir diese Fähigkeit zu hören immer mehr verlieren.

Diese — ich will einmal sagen — gesellschaftliche Krankheit spiegelt sich auch darin wider, wie wir uns Meinungen bilden. Meistens begegnen mir zwei Extreme: Einerseits sind Meinungen sehr im Fluss, sie sind eher Ausdruck von Mode und Geschmack, sie können heute so und morgen ganz anders sein — angepasst an gesellschaftliche Vorbilder oder Mehrheiten. Andererseits sind Meinungen mehr und mehr unverrückbare Blöcke, man ist davon überzeugt, wie das Klima zu retten ist oder was die Gesellschaft braucht oder nicht braucht — fertig. Man weiß es genau, dem, der eine andere Meinung hat, braucht man nicht zuzuhören. In öffentlichen Diskussionen schlägt man sich gegenseitig die unterschiedlichen Meinungen um die Ohren. Zuhören wird offensichtlich überbewertet. Eine Meinung bildet man sich aber anders, nicht indem ich mich abschließe, sondern indem ich höre, verstehe, abwäge und manchmal auch abwarte — und als Glaubender füge ich hinzu: indem ich bete.

Nun mag es so sein, dass unsere Gesellschaft Probleme hat, weil Menschen eben immer weniger in der Lage sind, dem anderen zuzuhören, weil Meinungen immer öfter Mode oder Geschmacksfrage sind — oder eben ein unverrückbarer Block, und es immer schwerer fällt, eine Meinung wirklich zu bilden. Das alles mag sein, aber wie kann man es ändern? Und somit sind wir wieder am Ausgangspunkt: kann ich Gott überhaupt bemerken, hören, wenn er mir etwas zu sagen hat? Ich bin fest davon überzeugt, dass die schwindende Fähigkeit, den anderen zu hören, im schwindenden Glauben liegt, dass es einen Gott gibt, den ich hören sollte, der mir etwas zu sagen hat. Ich will es mit einer Geschichte verdeutlichen: Ein Kloster verlor immer mehr Mitglieder, da ließ der Abt einen weisen Rabbi kommen, der ihm einen Ratschlag gab. Juden warten auf den Messias, Christen auf seine Rückkehr. Vielleicht — so der Rabbi — ist einer deiner Brüder der Messias. Da begannen die Brüder des Klosters sich anders, rücksichtsvoller zu behandeln, es könnte ja einer der Messias sein — gemäß dem Wort des Herrn: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das Kloster bekam einen guten Ruf und füllte sich wieder. Wenn wir an einen Gott glauben, der uns etwas sagen will, der uns im anderen begegnen will, dann wächst unsere Bereitschaft, ernsthaft zu hören — denn sonst könnten wir ja Gottes Ruf überhören. Martin wäre sonst am Bettler vorbeigeritten.

Wir hören aber oft nicht mehr, denn wir haben auch Religion sozusagen heruntergedimmt, so wie wir den heiligen Martin, der jahrhundertelang als Bekenner-Bischof verehrt wurde, zu einer Art Kindergartenonkel heruntergedimmt haben, der ein bisschen das Teilen lehrt. So haben wir das wirkliche Hören verlernt, alles wird gleich Schubladen wie Information oder Unterhaltung zugeordnet. Wir haben — zum Schaden unserer Gesellschaft — verlernt uns eine Meinung zu bilden, entweder ist Meinung Mode oder unveränderlicher Block. Ich bin überzeugt, dass wir das nur ändern können, wenn wir glauben, dass es Gott gibt, der uns etwas zu sagen hat. Deshalb lohnt es sich, die Ohren aufzumachen, denn sonst könnten wir das Entscheidende verpassen.