„Hättest Du doch den Himmel zerrissen!“ Über Vertrauen in schwierigen Zeiten

1. Adventssonntag (Lesejahr B; Jes 63, 16b-17. 19b; 64, 3-7; Mk 13, 33-37)

Mancher geht aus dem Haus, vertraut in fröhlicher Unbeschwertheit darauf, dass er sicher am Ziel ankommen wird — aber auf wen oder was er sein Vertrauen gründet, kann er eigentlich nicht sagen. An Gott glaubt er nicht. Ein anderer vertraut auf Gott, weiß sich in der Liebe des guten Vaters geborgen — und erleidet doch ein Unglück, das ihn aus der Bahn wirft. Wir leben offensichtlich in einer Welt solcher Widersprüche, wie sollen wir da ernsthaft auf Gott vertrauen? In beinahe beschwörendem Ton, in einer Eindringlichkeit, als wolle er sich selbst überzeugen, ruft der Prophet in der ersten Lesung „Du Herr, bist unser Vater … Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärst herabgestiegen.“ Wie sollen wir auf Gott vertrauen, da wir doch wissen, dass er nicht einfach vom Himmel her eingreift, dass uns Unglück und Erschütterung nicht erspart bleiben?

Vertrauen ist letztlich immer Ausdruck eines Mangels, ich kann eben nicht in die Zukunft schauen, kann nicht wissen, welches Unglück mich trifft oder vielleicht auch welcher Glücksfall mich bereichert. Ich kann nicht wissen, ob der andere einhält, was er verspricht. Moment, mag mancher denken, für Gott gilt das nicht, er hält seine Zusagen, das bedeutet doch Glauben, dass ich so auf ihn vertraue. Aber was heißt das? Gewiss nicht, dass einfach alles so geht, wie wir es wünschen. Gewiss nicht, dass Unglück uns erspart bleibt. Wenn ich einem anderen vertraue, nehme ich letztlich eine Art Untergrenze an, dies oder jenes mag geschehen, mehr aber nicht, denn sicher ist, dass ich tiefer nicht fallen kann: der andere lässt mich nicht im Stich, er entzieht mir sein Vertrauen nicht. Was ist diese Untergrenze in unserem Gottvertrauen? „Warum lässt Du uns, Herr, von deinen Wegen abirren?“, betet der Prophet. Im Leid — so meine Erfahrung — kann der Mensch nicht anders, als die Warum-Frage zu stellen: Warum trifft das mich? Warum den geliebten Menschen? Warum jetzt? Auch wer sich als nicht religiös betrachtet, wird sich bei dieser Frage ertappen, obwohl sie ohne Gott keinen Sinn ergibt, denn an wen sollte sie sich richten? Wer auf Gott vertraut, darf vertrauen, dass er diese Frage nicht ins Nichts richtet. Auch das Klagen, auch die Warum-Frage ist Gebet, wie es die alttestamentliche Lesung dieses ersten Adventssonntags und viele andere biblische Texte bezeugen. Auch das Klagegebet ist Vertrauen, der Mensch wendet sich nicht ab von Gott, sondern wendet sich ihm vielmehr zu. Das ist gewissermaßen die Untergrenze der Gottvertrauens: meine Klage, meine Warum-Frage ist nicht in eine kalte, tote Wirklichkeit geschrieen, sondern richtet sich an Gott, der heilen kann, der Sinn schaffen kann, wo in dieser Welt nur tote Bruchstücke bleiben. Ja, ich meine, wir können diese Untergrenze des Gottvertrauens noch genauer fassen: es ist die Zusage, dass Gott hinschaut. Er wendet den Blick, wenn wir in Not sind, nicht verschämt ab, wie vielleicht ein Freund, dem man nicht mehr gut genug ist, wenn der Erfolg ausbleibt. Gott schaut hin. In meiner Not werde ich gesehen. Manche haben das als Bedrohung gesehen, so als sei Gott ein Kontrolleur, der mich beim Falschfahren im Zug des Lebens erwischt. Doch das ist eine Perversion des Gemeinten. Es geht um eine tiefe Sehnsucht: dass ich gesehen werde, dass ich keine Rolle spielen muss, dass ich nicht erklären muss und dass man nicht nur sieht, was man will. Vor allem ist wichtig, dass ich mich nicht schämen muss, aber auch nicht der, der hinsieht, denkt: Das hätte ich lieber nicht gesehen. Das ist der Kern des Gottvertrauens, die unverbrüchliche Zusage, die Untergrenze, unter die wir bei allem Leid in dieser Welt nicht fallen können: Gott schaut hin.

Das ist auch eine Anfrage, wie wir anderen Menschen begegnen. Schauen wir auch hin? Oder haben wir keine Zeit? Wollen wir nur sehen, was in unsere Vorurteile passt? Können wir hinschauen, ohne zu verurteilen? Wir können zweifellos nicht alle Not der Welt, ja nicht einmal jede Not, die uns begegnet, in diesem strengen Sinne anschauen, aber bei den Menschen, die uns vertrauen, die wir unsere Freunde nennen, sollten wir es doch tun. Ich bin überzeugt, dass dies auch die Wachsamkeit ist, die Jesus im Evangelium einfordert: Aufmerksam-Sein für Gottes Blick auf mein Leben, Aufmerksam-Sein für die Menschen, die mich umgeben.

Wir leben in einer Zeit der Widersprüche, in einer Zeit, in der Vertrautes, sicher Geglaubtes erschüttert wird oder gar zerbricht. Es ist die Zeit, in die der Herr uns sendet als Zeugen seines Evangeliums, deshalb bleibt uns auch die Anfrage nicht erspart, warum wir überhaupt hoffen und vertrauen sollen. Und wenn wir hoffen und vertrauen — warum auf Gott? Irgendwie hoffen und vertrauen müssen wir, anders kann der Mensch nicht leben. Gerade in Krisenzeiten reichen Wahrscheinlichkeiten nicht aus, auf irgendetwas muss ich bauen, an irgendetwas oder -jemandem muss ich mich festhalten. Dieses Sich-Festhalten gibt uns die Kraft weiterzuleben, den Mut, auch einmal einen Irrtum einzugestehen und von vorn zu beginnen. Das klingt, als sei das Leben ein Spiel, nicht im Sinne fehlenden Ernsts, als sei alles nur Spielerei, nein, es klingt, als sei das Leben ein Spiel mit einem festen Rahmen, mit Regeln, die für alle verbindlich sind, Regeln, die auch auch einen Neuanfang zulassen. Wenn wir uns korrigieren, neu beginnen, vielleicht sogar in einem sehr grundsätzlichen Sinn, dann setzen wir voraus, dass das Leben einen Rahmen, einen Sinn hat, den wir nicht gemacht haben, dass es Regeln gibt, die für alle gelten. Der andere darf mir den Neuanfang nicht streitig machen, sonst verstößt er gegen die Regel, die doch auch für ihn gilt. Wer soll die Quelle dessen sein, das wir nicht gemacht haben und doch für alle gilt — wenn nicht Gott?

In einer Zeit, die aus den Fugen geraten scheint, ist es nicht einfach auf Gott zu vertrauen. Vertrauen beinhaltet eine Untergrenze, die Überzeugung, dass ich tiefer nicht fallen kann. Bei Gott bedeutet dies: er schaut hin. Keine Rollen, kein Verstecken-Müssen, kein verschämtes Wegschauen. In meiner Not werde ich gesehen. Wir brauchen solches Vertrauen, um uns festhalten, um neu beginnen zu können. Gott ist es, der uns immer wieder diesen Anfang schenkt. Das sind seine Regeln.