Religion ist nicht unser Griff nach dem Geheimnis, sondern sein Griff nach uns

2. Adventssonntag (Lesejahr B; Mk 1,1-8)

„Ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems zogen zu ihm hinaus“: ein bisschen Neid regt sich da — zugegebenermaßen — angesichts des Zulaufs, den Johannes der Täufer da hat. Auch wenn man annehmen darf, dass der Evangelist in seiner Begeisterung nicht genau nachgezählt hat, ob wirklich alle Einwohner Jerusalems gekommen waren, so war Johannes der Täufer doch eine öffentliche Figur, die Menschen anzog. Was fanden die Menschen an ihm — dem Einsiedler im seltsamen Kamelhaargewand mit den ungewöhnlichen Nahrungsgewohnheiten: Heuschrecken und wilder Honig? Aber schauen wir besser auf unsere eigene Situation, darauf, was wir vom Täufer lernen können. Was zieht Menschen heute an? Wie kann Glaube heute gelehrt und gelebt werden?

Wenn man so fragt, muss man natürlich immer ergänzen, dass wir alle kein Patentrezept haben, dass wir den Zeitgeist nicht einfach drehen können. Wir alle haben aber in diesem Jahr gesehen, wie schnell sich Dinge verändern können, die man als selbstverständlich genommen hat. Es geht an dieser Stelle nur darum, ein wenig von Johannes dem Täufer zu lernen, wie Glaube heute gelebt und verkündet werden kann. Johannes steht von seiner äußeren Erscheinung, von seinem Lebensstil in auffallendem Gegensatz zu den Einwohnern der Hauptstadt Jerusalem. Und noch mehr als das: er fordert von ihnen das Eingeständnis der eigenen Sünden und als Zeichen, dass sie es ernst meinen, eine öffentliche Handlung: die Taufe, eine Art Reinigungsbad im Jordan. Der Betreffende muss vor aller Augen in den Fluss steigen, ein- und wieder auftauchen, ein Zeichen des Neubeginns. Was für ein Schritt, sich öffentlich so zu seinen Sünden zu bekennen! Als Anstoß für heute heißt das in meinen Augen: Es hilft nichts, wenn wir überlegen, wie wir unsere Botschaft leichter verdaulich machen, indem wir ihr die Spitze abbrechen, alles Herausfordernde, Provokative streichen, damit wir mehrheitsfähig bleiben. Das bedeutet nicht, dass wir einfach die Zeit zurückdrehen können, alles wie früher machen können und als Block einer feindlichen Zeit gegenüberstehen. Das hat Johannes der Täufer übrigens auch nicht gemacht. Obwohl er — wie der Evangelist sagt — in der Tradition des Jesaja steht, hat er doch seinen eigenen Auftritt, seine eigene Botschaft und sein eigenes Zeichen: die Taufe. Nein, es geht darum neu zu überlegen, was das Evangelium heute bedeuten kann. Vor kurzem las ich, die Kirche müsse menschenfreundlicher werden, mein spontaner Gedanke war: Wann werden die Menschen Gott-freundlicher? Gewiss hat die Kirche zahlreiche Fehler gemacht, Vertreter der Kirche haben Verbrechen begangen, und wir zahlen heute einen bitteren Preis dafür, indem wir unsere Glaubwürdigkeit in den Augen sehr vieler Menschen verlieren oder schon verloren haben. Aber das kann doch nicht bedeuten, dass wir uns Kirche und Glaube aus ein paar Brocken von „Jesus-Geschichten“, die wir kennen, zusammenbasteln, damit sie unseren Erwartungen entsprechen, anstatt zu überlegen, wie Gott unser Leben prägen kann und wie wir mehr dem Evangelium entsprechen können.

Heutzutage hört man ständig von Leuten, die anders leben wollen, die ihr eigenes Ding machen wollen, die sich mit dem Gewöhnlichen nicht zufrieden geben wollen. Und dann sind es — genau besehen —doch nur Leute, die das machen, was diese Gesellschaft schätzt, die die Botschaften verkünden, die allen gefallen. Die wahren Alternativen, das sind doch wir als Glaubende. Wer heute anders leben will, wer heute wirklich provozieren will, der muss nicht auf Selbstfindungstour nach Asien gehen, sondern hier bei uns Gott und sich selbst suchen. Mit Johannes dem Täufer sollten wir da unser Selbstbewusstsein stärken. In einer Gesellschaft, die ständig nach Alternativen, nach Menschen, die ihren eigenen Weg gehen, sucht, sind wir die wahren Alternativen — auch ohne Kamelhaargewand und wilden Honig.

Trotz alldem gibt es viele Menschen, die zumindest zeitweise eine gewisse Offenheit für Religion haben. Kämpferische Atheisten — also Menschen, die fest daran glauben, dass es Gott nicht gibt — gibt es nicht so viele. Religion ist allerdings in den Augen vieler etwas Weiches, Formbares. Irgendwie gibt es schon mehr, als unsere Sinne fassen können, einen höheren Sinn, auch die tote Oma ist nicht einfach weg, sondern irgendwie lebt sie weiter. Irgendwie gibt es eine höhere Kraft, ein Schicksal, etwas Geheimnisvolles, das man aber übersehen kann, solange es einem gut geht, das man aber sucht, wenn die Krise da ist, irgendeinen höheren Sinn muss es ja geben. Kurz gesagt: in der Religion geht es um etwas Geheimnisvolles, Höheres, das aber irgendwie davon abhängt, wie ich mich ihm nähere, es ist formbar, je nachdem wie ich gestimmt bin, was ich auch darin sehen will. Diese Sicht der Dinge ist — im wahrsten Sinne des Wortes — eine Halbwahrheit. Gewiss ist Gott Geheimnis, er ist mehr an Wahrheit, als wir zu tragen vermögen, wie es Romano Guardini formuliert hat. Aber dieses göttliche Geheimnis ist nichts, was sich durch unsere Sicht, durch unsere Bedürfnisse formen lässt. Gott tritt an uns heran, fordert und fördert uns. Hören wir auf den Täufer: „Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich.“ Der Täufer ist Bote des Größeren, er verweist auf Gott, der unsere Grenzen sprengt.

Das ist unsere Aufgabe heute. Wenn Menschen etwas von dem Größeren, Geheimnisvollen im Dasein ahnen, sind wir seine Boten, indem wir sagen: Religion ist nicht unser Griff nach der Wirklichkeit, nicht unser Griff nach dem Geheimnis, das wir ahnen, sondern der Griff des Geheimnisses nach uns. Johannes der Täufer steht für diese Festigkeit und Klarheit.

Was also lernen wir von ihm? Johannes der Täufer ist ein Fremdkörper, ein Provokateur. das Evangelium zu verkünden, kann nicht bedeuten, mit Sonderangeboten zu werben, indem man alles Herausfordernde streicht. Es geht nicht darum, die Uhr zurückzudrehen zu einer vermeintlich guten alten Zeit, sondern das Evangelium mit all seinen Herausforderungen für heute auszulegen — mit offenen Ohren und Herzen für Gottes Wort. Wer heute bei uns Gott und sich selbst sucht, der gehört zu den wahren Alternativen. Trotz allem haben viele Menschen Religion nicht einfach abgehakt, irgendwie etwas Geheimnisvolles, Größeres haftet dem Leben eben doch an. Doch zugleich scheint Religion etwas Formbares zu sein, je nach Stimmung. Das göttliche Geheimnis ist jedoch nichts, das von uns geformt wird. Religion ist nicht unser Griff nach der Wirklichkeit, nicht unser Griff nach dem Geheimnis, das wir ahnen, sondern der Griff des Geheimnisses nach uns. Johannes der Täufer ist Zeuge dafür.