Scheitern ohne Bitterkeit

6. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A; Mt 5,20-22a.27-28.33-34a.37)

Wahrscheinlich seit es die Bergpredigt gibt, wird über sie gestritten — gerade auch über den Teil den wir heute gehört haben. Wie soll man so etwas denn leben, ist dieser Anspruch nicht viel zu hoch? Der eine wollte die Bergpredigt nur für besonders Auserwählte gelten lassen, der andere sah sie als bewusst zu hohe Hürde an, an der der Mensch scheitern m u s s, um so wirklich der Barmherzigkeit Gottes zu vertrauen. Doch mehr und mehr wird deutlich, dass solche Verrenkungen nicht tragen. Jesus hat all diese Forderungen bewusst und klar vor seine Zuhörer gestellt. Letztlich muss — so glaube ich — die Frage lauten: Können wir Menschen eine sehr anspruchsvolle Moral annehmen — ohne uns unwert und unwürdig zu fühlen?

Es geht nicht einfach darum, Vergebung zu finden, als Christ kann ich der Barmherzigkeit Gottes vertrauen, es geht darum, dass ich in dem ständigen Scheitern am vorgegebenen Anspruch nicht mein Selbstwertgefühl verliere. Doch wir entkommen dieser Problematik nicht, indem wir den Anspruch senken. Die Zwickmühle bleibt: Wenn wir eine Moral haben, die diesen Namen noch verdient, weil sie einen Anspruch an uns formuliert, dann werden wir auch immer wieder an diesem Anspruch scheitern. Das Problem liegt in uns selbst. Wir wollen das Gute und tun es doch immer wieder nicht — und zwar nicht immer aus Unkenntnis, sondern eben auch, weil man zu faul ist, weil eine Belohnung winkt: das schnelle Geld, die nächste Stufe auf der Karriereleiter oder einfach die Bewunderung der anderen. Wir kennen das Gute — und tun es doch nicht. Diesem Problem kann ich nicht einfach ausweichen, indem ich den Anspruch von Moral senke. Es ginge nur, indem ich Moral gänzlich abschaffe, aber das klappt offenbar doch nicht, denn irgendwie streben wir ja das Gute an. Der Anspruch lässt sich nicht so einfach unterdrücken. Die Lösung des Evangeliums bedeutet, sich der Barmherzigkeit Gottes anzuvertrauen, man denke an das Gleichnis des verlorenen Sohns. Doch auch dieser Schritt klingt leichter, als er ist. Viele Menschen empfinden das inzwischen als Zumutung, als Fremdbestimmung. Was aber sind dann die Alternativen? Diese sind vielfältig: moralische Ansprüche zu senken, oder Schuld gänzlich zu verneinen, man spricht nur noch von Problemen — oder das Ganze ausschließlich in den Bereich der Psychologie zu schieben, an einem positiven Selbstbild zu arbeiten usw. Gleichzeitig beklagt man — vor allem natürlich bei den anderen, den Mächtigen in Politik und Wirtschaft — einen Verfall der Moral. Irgendwie will man das Gute, irgendwie klappt es nicht . . . Wir entkommen aus eigener Kraft dieser Zwickmühle nicht.

Also doch der Barmherzigkeit Gottes vertrauen? Das scheint nicht so einfach zu sein. Gewiss, der Glaube verspricht dem, der bereut, Vergebung, aber das Problem liegt — wie gesagt — tiefer. Wie kann ich mein Selbstwertgefühl nicht verlieren, wie kann ich es schaffen, mich nicht unwert und unwürdig zu fühlen, weil ich ständig scheitere? Es geht nicht darum, Reue klein zu reden. Diese gehört zur Vergebung, und in irgendeiner Form hat sie wohl auch jeder, der aufrichtig um Vergebung bittet. Nein, es geht darum, dass aus diesem Kreislauf von Schuld, Reue und Vergebung nicht ein Grundgefühl der Bitterkeit erwächst, das in letzter Konsequenz auch die Aufrichtigkeit der Reue schädigt, weil man bei sich denkt: na ja, ich werde es ohnehin wieder tun, dieser moralische Anspruch ist einfach zu hoch für mich. Ja, die Gottesbeziehung kann darunter leiden, weil ich denke, ich dürfte eigentlich gar nicht zu denen gehören, die Jesus nachfolgen, da ich viel zu wenig nach seinem Wort lebe. Wie also mit diesem Problem umgehen? Ich denke, dass es auf unser Gottesbild ankommt. Ist es nicht so, dass zu oft unverbunden nebeneinander eine Art Gesetzgeber-Gott und ein barmherziger Gott stehen? Mancher meint, der Gesetzgeber-Gott begegne nur im Alten Testament, der barmherzige nur im Neuen. Gerade die Bergpredigt sollte eines Besseren belehren: „Ich aber sage euch“ — Jesus beansprucht so die Gesetzgeber-Kompetenz Gottes. Zugleich wissen wir auch um die Zusage der Vergebung und Barmherzigkeit, wie sie uns im bereits erwähnten Gleichnis vom verlorenen Sohn begegnet, und auch um die Zuversicht im Vater Unser — das ebenfalls in der Bergpredigt überliefert wird. Man fürchtet den Gesetzgeber-Gott und flüchtet zum barmherzigen, oder macht es sich gleich leichter, indem man den ersten mehr oder weniger ablehnt. Einen anderen Weg finden wir in einem anderen Bild, das Gott nicht quasi aufspaltet. Ich denke an einen Lehrer, dem man vieles verdankt. Sind die guten Lehrer — wenigstens im Rückblick — nicht die, die auch streng waren, die einem etwas abverlangt haben, und die Schüler, wenn sie gescheitert sind, wieder ermutigt haben? Ein guter Lehrer erkennt die Möglichkeiten eines Schülers und spornt ihn an, diese zu entfalten, auch wenn es Mühe kostet. Er ermutigt, wieder aufzustehen, wenn man gefallen ist, streckt die Hand aus und sagt: Kein Grund aufzugeben, komm, wir machen weiter. Könnte das nicht auch ein Bild für Gott sein? Er, der uns anspornt, das Gute , das wir wollen, die Möglichkeiten, die in uns liegen, zu entfalten, auch wenn sich das gelegentlich hart anfühlt, der aber immer wieder die Hand reicht und ermutigt, wieder aufzustehen, wenn man gescheitert ist. Im Jesuiten-Orden hat sich die Praxis des so genanten „Gebets der liebenden Aufmerksamkeit“ entwickelt. Gott sieht mit mir in liebender Weise auf den Tag, ich darf ihn bitten — auch und gerade um Vergebung — und ihm danken. Dies könnte ein Schritt sein, ein solches Gottesbild zu leben.

Es ist nicht leicht, den Anspruch von Moral auszuhalten, ohne sich unwert zu fühlen. Gewiss kann und muss ich mich der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen, aber auch da kann sich eine Bitterkeit einschleichen, weil man von sich selbst enttäuscht ist — eine Bitterkeit, die Reue und auch die Gottesbeziehung schädigen kann. Letztlich kommt es auf das Gottesbild an, das ich nicht — bewusst oder unbewusst — in Gesetzgeber-Gott und barmherziger Gott spalten darf. Ein passenderes Bild wäre das eines guten Lehrers, der anspornt, das Gute zu wagen, die eigenen Möglichkeiten zu entfalten, und der auch wieder ermutigt und hilft, weiterzumachen, wenn man gescheitert ist.