Die „Stärke“ unserer Gesellschaft ist nur eine unechte Pose

Allerheiligen 2020 (Mt 5,1-12a)

Friseursalons, Kosmetikstudios, Schulen, Kindergärten — was bleibt geöffnet, was muss schließen? Am Mittwochabend musste ich mich erstmal durch eine umfangreiche Liste arbeiten, bis endlich Klarheit herrschte. Gottesdienste dürfen weiterhin stattfinden. Irgendwann nach Friseursalons, Buchhandlungen und körpernahen Dienstleistungen wurde das auch noch erwähnt. Dass Gottesdienste stattfinden dürfen, ist halt keine große Nachricht mehr. Und was tun wir dagegen, da sozusagen als Auftakt, als Ouvertüre zum nächsten Lockdown — oder wie immer man die erneuten Einschränkungen nennen mag — ein wichtiger katholischer Feiertag ansteht? Allerheiligen. Sieh an. Uns fällt nichts weiter ein, als dieses altbackene Ideal von Heiligkeit, das für viele wahrscheinlich eher nach moralisch einwandfreier Langeweile klingt. Hat uns „Heiligkeit“ noch etwas zu sagen — in dieser Zeit, die so offenbar nach Orientierung sucht?

Wenn ich das Evangelium des Tages, die Seligpreisungen, betrachte, fällt mir auf, dass es auf den ersten Blick um Verletzlichkeit geht: Trauer, Sanftmütigkeit, Armut vor Gott. Gleichzeitig offenbart sich in den selig Gepriesenen auch Stärke. Friedensstifter, Kämpfer für Gerechtigkeit, Menschen, die Verfolgung aushalten, sollen sie sein. Ist es nicht ein Kennzeichen der gegenwärtigen Krise, dass wir eigentlich sehr auf Stärke gestimmt sind — und nun Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit erfahren? Immer hieß es, wir sollen selbstbestimmte Menschen sein, die ihr Ding machen, ohne sich um Konventionen zu scheren. Und nun sollen wir alle zu Hause bleiben und Kontakte reduzieren, weil es zu gefährlich ist — für uns und für andere. Wo bleibt unsere Stärke, unser Selbstbewusstsein? Wie gehen wir mit der Erfahrung von Verletzlichkeit um? Das Evangelium zeigt uns den Weg, wie beides zusammengehört.

Friedensstifter, die Jesus selig preist, brauchen Stärke und Durchhaltevermögen, sie müssen oft genug dicke Bretter bohren, wie man in der Politik so sagt. Doch zugleich müssen sie um Verletzlichkeit wissen, Frieden kann ich nur stiften, wenn ich weiß, wo den Gegnern „der Schuh drückt“, wie man so sagt, gerade wenn sie das unter einer drohenden, starken Haltung zu verbergen suchen. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Derjenige, der Verfolgung aushält, erfährt seine Verletzlichkeit auf sehr unmittelbare Weise und eben deshalb braucht er großen Mut und große Stärke. Stärke erwächst aus Verletzlichkeit und umgekehrt. Eben weil ich um meine Verletzlichkeit weiß, bin ich stark. Ich darf diese auch schützen, muss sie nicht jedermann unter die Nase reiben. Eben weil ich verletzlich bin, weiß ich um die Untiefen und Herausforderungen des Lebens — und eben dieses Wissen macht mich stark. Ist oft genug die „Stärke“, die man in unserer Gesellschaft zu sehen bekommt, nicht nur eine Pose für die sozialen Medien, ein Bild in einer bildersüchtigen Zeit? Verletzlichkeit erwächst aber auch aus Stärke. Der Friedensstifter und der Kämpfer für Gerechtigkeit machen sich angreifbar, weil sie zeigen, was ihnen wichtig ist. Wer wirklich stark ist, hat immer wieder auch den Mut, Verletzlichkeit einzugestehen.

Stärke erwächst aus Verletzlichkeit und umgekehrt. Der Grund hierfür liegt letztlich in Gott selbst. Wir glauben an den allmächtigen, allumfassenden Gott, der diese Welt geschaffen hat. Und wir glauben, dass dieser Gott Mensch geworden ist. Ein Mensch, der Leiden und Tod getragen hat und gerade darin die größte Stärke gezeigt hat. Er hat gezeigt, dass die überwältigende Macht des Römischen Reiches, für die er nur ein lächerlich kleiner Aufrührer am Rande des eigenen Machtbereichs war, letztlich schwächer ist als sein Zeugnis, das er in seinem Leben und Sterben gibt. Noch heute wird seine Botschaft verkündet, seine Auferstehung gefeiert, während das Römische Reich schon lange untergegangen ist.

Aber wie hilft uns das? Der Schlüssel liegt meines Erachtens in der ersten Seligpreisung: „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Diese Armut vor Gott ist das Eingestehen der eigenen, umfassenden Verletzlichkeit vor Gott. Das Eingeständnis, nicht nur dass ich manchmal überfordert und hilflos bin, sondern dass ich meine letzte Sehnsucht nach Leben und Liebe ohne Grenzen und Lasten nicht erfüllen kann. „ . . . denn ihnen gehört das Himmelreich“, verspricht der Herr. Gerade aus dieser Haltung erwächst die wahre Stärke: dass Gott erfüllt, was nichts und niemand in dieser Welt erfüllen kann. Mancher mag einwenden: ist das nicht wieder Schwäche, auf Gott zu setzen, von ihm Erfüllung zu erhoffen? Ein Beispiel mag das widerlegen. Wenn jemand unter irgendeiner Sucht leidet, betrachten wir es nicht als Stärke, wenn derjenige sich eingesteht, dass er Hilfe braucht, dass er es selbst nicht schafft? Betrachten wir es nicht als bewundernswerte Stärke, wenn derjenige sich die entsprechende Hilfe sucht, diese annimmt und so seine Sucht beherrscht? Wer in den Abgrund geschaut hat und sich nicht hineinziehen lässt, beweist wahre Stärke. Zu erkennen, dass der Mensch sich nicht selbst erfüllen kann, und so Gott zu suchen, ist die wahre Stärke. Gewiss kann der Mensch seine Begrenztheit auch ohne Gott erkennen und mancher meint, das genüge auch, er müsse dies eben annehmen. Das ist möglich, aber letztlich führt das zu einem falschen Heldentum: „Seht, wie stark ich bin, dass ich ohne Gott leben kann!“ Ein falsches Heldentum, dass den Herausforderungen des Lebens und der eigenen Verletzlichkeit nicht gewachsen ist.

Die Armut vor Gott lehrt uns Stärke und Verletzlichkeit zusammenzubringen wie nichts anderes. Das ist gewiss kein Trick oder eine Technik, die man schnell erlernen kann. Es ist ein Weg, der Weg des Lebens. Es ist auch das Ideal der Heiligkeit, das uns so viele Heilige bezeugen, die auf ganz unterschiedliche Weise dieses Ideal gelebt haben und ganz unterschiedliche Stärken und Verletztlichkeiten zusammengebracht haben.

Die gegenwärtige Krise entlarvt viele Stärken nur als Posen, als unechte Haltungen, die nur für ein Bild taugen, die Krise konfrontiert uns mit der Zerbrechlichkeit des Lebens. Das Ideal der Seligpreisungen Jesu bringt Stärke und Verletzlichkeit zusammen. Stärke erwächst aus Verletzlichkeit und umgekehrt. Der Schlüssel dafür liegt in der ersten Seligpreisung. Die Armut vor Gott ist sozusagen das Eingeständnis der umfassenden Verletzlichkeit des Menschen, aber in Gott wird sie zur Stärke, weil er erfüllen kann, was die Welt nicht kann. Das ist kein Trick, keine schnell erlernbare Technik, sondern ein Weg. Mein Lebensweg