Die gesunde Mitte wiederfinden

Erscheinung des Herrn (Dreikönig; Mt 2,1-12)

„Ich bin religiös unmusikalisch“, sagte einmal der Philosoph Jürgen Habermas. Heute scheint er damit die Situation der meisten Menschen in unserer Gesellschaft zu treffen. Nachdem die Weihnachts-, Lebkuchen-, Tannenbaumzeit, die vielleicht noch ein bisschen an so etwas wie Religion erinnert hat, für die Großzahl der Leute schon wieder vorbei ist, ist das Thema Religion auch erledigt. Ich begegne immer mehr Menschen, für die dieses Thema so fremd ist wie einem Unmusikalischen die großen Werke der Komponisten Bach oder Mozart. Was können wir noch tun, um Religion dem „religiös Unmusikalischen“ näherzubringen? Wie lässt sich umschreiben, was Religion bedeutet?

Im Evangelium begegnen wir einer Gruppe, der Religion etwas bedeutet, ja die sogar einen langen und beschwerlichen Weg — man denke an die Reisebedingungen jener Zeit — auf sich nehmen: die Sterndeuter. Sie suchen den neugeborenen König, den sie als Gott verehren, das zeigen sie durch das Niederfallen vor ihm, im Orient war das damals eine Geste der Anbetung. Und sie geben uns auch eine bleibende Erklärung dessen, was Glaube heißt: die Suche nach Gott. Nach Gott zu suchen, bedeutet aber nicht, dass wir von Gott gar nichts wissen können, eine Suche ergibt keinen Sinn, wenn ich keinerlei Ahnung von dem habe, was ich suche, ja, sie ist umso effektiver, je mehr ich von dem weiß, den ich suche. So war es doch auch bei den Sterndeutern, offenbar hatten sie durch den Stern ein Wissen von dem, was sie suchten, ohne jedoch zu wissen, dass der Stern sie zum Kind von Bethlehem führen wird. Doch wie lässt sich diese Suche nach Gott nun dem „religiös Unmusikalischen“ nahebringen?

Ich glaube, das Problem fängt schon damit an, dass wir Glauben und Religion zu einem Sonderbereich des Lebens erklären wollen, für den man halt eine Begabung braucht wie für anderes auch. Ich bin überzeugt davon, dass es tatsächlich so etwas wie eine religiöse Begabung gibt, dass manche Menschen eine besondere Empfänglichkeit für Religiöses haben. Es gibt auch Menschen, die in Bezug auf Freundschaften ein besonders glückliches Händchen haben — wenn man so sagen will —, und trotzdem würde wohl kaum jemand bestreiten, dass Freundschaft für alle zum Leben gehört oder gehören sollte. Jedenfalls im Christentum soll der Glaube mein ganzes Leben prägen und nicht nur ein Hobby nebenbei sein oder eine Apotheke, die man aufsucht, wenn es einem schlechtgeht. So kann der religiös Unmusikalische, Unbegabte erkennen, dass der Glaube auch für seine Begabungen, ja in diesen Begabungen eine gute, vielleicht sogar notwendige Rolle spielen kann. Werfen wir mal einen Blick auf die andere auffallende Gestalt des Evangeliums: König Herodes. Er kommt im Matthäus-Evangelium alles andere als gut weg, ein brutaler Machtmensch. Die Geschichtswissenschaft sieht ihn nicht so einseitig, sie sieht auch seine Leistungen, er war wohl durchaus ein begabter Politiker, doch da liegt die Versuchung zum Machtmissbrauch nahe. So ist das mit Begabungen, sie haben alle auch ihre dunkle Seite, wer führen und entscheiden kann, ist auch in Gefahr, Macht zu missbrauchen. Wer mutig ist, ist in Gefahr sich zu überschätzen und unvernünftig Gefahren einzugehen. Was hilft bei solchen Entwicklungen? Das ist der Glaube, und zwar der Glaube an den menschgewordenen Gott. Begabungen sind — so hat es schon die Antike beschrieben — die Mitte zwischen Extremen: Mut ist die Mitte zwischen Feigheit und unvernünftiger Blindheit für Gefahren, die Fähigkeit zu leiten liegt zwischen Verantwortungslosigkeit und Machtmissbrauch. Der Glaube an den Gott, der Mensch wird, ruft den, der zum Extrem neigt, wieder zur Mitte. Gott, der Mensch wird, lässt los, verzichtet, bleibt nicht einfach „über den Wolken“, sondern wird Mensch, wagt Begegnung. Das ist doch das entscheidende Rezept, wenn ein Mensch neigt: loslassen, anderen begegnen, zuhören, sich in die Lage der anderen versetzen. Wer nach dem menschgewordenen Gott sucht, findet auch immer wieder die gesunde Mitte. Die Haltungen, die der menschgewordene Gott im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert, rufen uns in einer Zeit der Polarisierungen und Extreme immer wieder zur Mitte: zuhören, loslassen, sich in die Lage des anderen versetzen.

 Das Beispiel des Herodes zeigt uns noch etwas für unsere Zeit geradezu Entscheidendes. Macht muss begrenzt werden, muss die Pflicht haben, sich zu verantworten. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Heute ist vielfach von der Verantwortung des Menschen für die kommenden Generationen die Rede, von denen wir — so eine gängige Aussage — die Erde nur geliehen haben. Gewiss ist das ein interessanter Gedanke, der zum Nach- und Weiterdenken anregt, aber er umgeht meiner Meinung nach etwas Wesentliches. Wir haben Verantwortung vor dem Größeren, der uns bewusst wird, wenn wir das Leben als Geschenk empfinden und den wir als Glaubende Gott nennen. Von dieser Verantwortung her kann eine Kritik der Macht gelingen.

Mancher mag diesen Anspruch als zu groß empfinden, was wissen wir schon von der Wahrheit, bestenfalls Bruchstücke. Ich meine, dass eine solche Sicht der Dinge das Wesen der Wahrheit verkennt. Wenn ich ein Bruchstück der Wahrheit erkannt habe, so bleibt dies wahr, auch wenn ich neue, tiefere Zusammenhänge entdecke — sonst ist es nicht wahr. Ein Bruchstück der Wahrheit wird nicht unwahr, weil ich es in neuen Zusammenhängen erkenne, es leuchtet vielleicht heller, aber es bleibt wahr. Kaum mehr als ein solches Bruchstück hatten auch die Sterndeuter erkannt, als sie dem Stern folgten.

Was also können wir Menschen nahebringen, mitgeben, die sich selbst als „religiös unmusikalisch“ erleben? Seine Begabungen zu leben heißt immer wieder zwischen Extremen hin- und herzuschwingen. Wer mutig ist, muss nicht nur Feigheit vermeiden, sondern auch unvernünftige Blindheit für Gefahren. Der Glaube an den menschgewordenen Gott führt mich immer wieder zur Mitte, denn er verkörpert die dazu notwendigen Haltungen: Loslassen, zuhören, anderen begegnen. So gelingt auch eine Kritik der Macht, indem sie sich vor Gott verantworten muss — alle anderen Ideen und Konstruktionen bleiben gewissermaßen zahnlos. Darum lasst uns — wie die Sterndeuter — ihn anbeten, der für uns Mensch wurde.