Der Blickwinkel, aus dem alltägliche Sorgen kleiner erscheinen

1. Adventssonntag (Lesejahr C; Lk 21, 25–28.34–36)

„Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör!“, wusste schon im 19. Jahrhundert Wilhelm Busch. Gleichzeitig ist die Erkenntnis, dass Alkohol kein angemessenes Mittel zur Bekämpfung von Sorgen ist, nicht nur recht weit verbreitet, sondern auch schon im Evangelium vorhanden. Jesus warnt ausdrücklich vor „Rausch und Trunkenheit“, doch ein genauerer Blick auf das, was Jesus da sagt, mag erstaunen. Er warnt nicht nur vor Rausch und Trunkenheit, sondern mahnt auch, sich von den Sorgen des Alltags nicht so verwirren zu lassen, dass man Gott, der allein bleiben wird in den Stürmen des Lebens, aus dem Blick verliert. Ernsthaft?!, fragt da wohl mancher Zeitgenosse zurück. Wenn Religion überhaupt einen Sinn haben soll, muss sie mir ein Mittel gegen meine Sorgen anbieten und nicht mich wegen dieser Sorgen kritisieren und von mir verlangen, ich solle auf Gott schauen. Wie soll das überhaupt gelingen: sich nicht von den Sorgen des Alltags fesseln zu lassen und stattdessen auf Gott zu schauen?

Wenn man es so formuliert, scheint die Aufgabe hoffnungslos zu sein, gerade in der gegenwärtigen Zeit sind die alltäglichen Sorgen oft noch belastender, während Gott für die Menschen irgendwie zu verdunsten scheint: für die einen ist er ohnehin bedeutungslos, für andere möglicherweise noch ein Ritual, das ein bisschen Stabilität verleiht in unsicheren Zeiten. Für unsere Sorgen gibt es natürlich ganz konkrete Mittel: dass man sich aufrafft mit dem Kollegen oder dem Bruder, mit dem man Ärger hat, einmal zu sprechen beispielsweise. Doch zugleich hat wohl jeder Mensch noch etwas, das nicht die konkrete einzelne Sorge beseitigt — was manchmal eben auch nicht oder nicht so einfach geht —, ihn aber gewissermaßen über diese Sorgen erhebt: eine Idee, eine Vorstellung, ein Ideal, etwas, das ihn leitet und ermutigt und die Sorgen kleiner erscheinen lässt. Das kann die Liebe des Ehepartners sein, eine Freundschaft oder auch die Überzeugung im eigenen Beruf wirklich an der richtigen Stelle zu sein, da wirklich gebraucht zu werden. Wahrscheinlich jeder hat — bewusst oder unbewusst — eine solche Vorstellung, die es ihm erlaubt, sich wenigstens manchmal über die alltäglichen Sorgen zu erheben. Solche Vorstellungen helfen auch tatsächlich, man denkt, wenigstens habe ich diese Freundschaft, diese Liebe, diese Aufgabe, wenn anderes schon so belastet. Gelegentlich erfährt man jedoch, dass man sich mit seiner Vorstellung zumindest teilweise getäuscht hat. Die Liebe, die Freundschaft zerbricht. Während man selbst noch von dieser sozusagen gelebt hat, hat der andere einen schon betrogen. Oder während man an die Bedeutung seiner Arbeit glaubt, wird hinter dem eigenen Rücken schon die Entlassung geplant. Oder es ist nicht ganz so dramatisch, man erfährt einfach, dass die Freundschaft, die für einen selbst ganz zentral ist, es für den anderen gar nicht ist, oder in der Firma wird die Bedeutung der eigenen Arbeit gar nicht als so wichtig eingestuft, wie man selbst glaubt. Diese Ideen, Vorstellungen, diese Ideale, die uns helfen, uns manchmal über unsere alltäglichen Sorgen zu erheben, sind meist teilweise wahr, aber oft eben auch teilweise etwas, das nicht zutrifft, sondern unserer Phantasie entspringt, weil kein Mensch so vollkommen ist, wie man es sich gern ausmalt, weil kaum eine Aufgabe so wichtig ist, wie man es sich in düsteren Stunden vorstellt. Was wäre, wenn es ein solches Ideal gäbe, das nur Wirklichkeit wäre, nichts als Wirklichkeit?

Und eben jetzt sind wir bei Gott angelangt. Er ist kein Ideal, das wir uns selbst gebaut haben, keine Vorstellung, die unsere Phantasie zumindest teilweise gebaut hat. Wenn es Gott gibt, dann ist er Wirklichkeit schlechthin. Unsere kleine Betrachtung zeigt uns also, was zunächst seltsam erschien, ist letztlich zutiefst menschlich. Wir Menschen haben Vorstellungen und Ideen, die unsere alltäglichen Sorgen nicht unmittelbar lösen, aber uns darüber heben, zeigen, dass sie nicht das Letzte und Entscheidende sind. Manches daran ist wahr, manches eher Wunschvorstellung. Gott ist Wirklichkeit, schauen wir auf ihn, rücken wir ihn mehr in den Mittelpunkt, er hebt uns, wie es kein Ideal kann.

Ich weiß schon, der Einwand liegt quasi auf der Hand, und ist auch schon oft genug angeführt worden. Gott ist eben die Wunschvorstellung schlechthin, das erfundene Ideal, das Menschen irgendwie ablenken soll. Darum habe ich schon vorsichtig gesagt: wenn es Gott gibt, ist er Wirklichkeit schlechthin. Und, gibt es ihn? Wenn wir uns im Kalender dieser Zeit umschauen, ist er voll von Heiligen ganz unterschiedlichen Charakters. Der heilige Andreas, einer der ersten Apostel,  der am x-förmigen Kreuz als Märtyrer starb, begegnet uns am 30.11. Wir hatten am 11.11. den heiligen Bischof Martin, der nicht nur den Mantel teilte, sondern in einer schwierigen Zeit ein Verteidiger des wahren Glaubens, dass Gott Mensch geworden ist, war. Wir haben auch solche, die näher an unserer Zeit sind, wie den seligen Rupert Mayer am 3.11., der im Nationalsozialismus von seiner Kanzel aus Widerstand leistete, oder am 4.12. den seligen Adolph Kolping, der für die Kirche die Wichtigkeit der sozialen Frage im 19. Jahrhundert entdeckte. Sie alle haben ein ganz unterschiedliches Profil, was sie aber eint, ist, dass sie auf Gott setzten, so wie Jesus es im Evangelium sagt — und eben das hat sie über alle alltäglichen Sorgen erhoben, so dass manche sogar ihr Leben riskiert haben. Wäre das möglich, wenn Gott nicht Wirklichkeit wäre?

Alltägliche Sorgen beiseite zu schieben und Gott in den Mittelpunkt zu stellen: das erscheint vielen fremd und seltsam — vorsichtig gesagt. Dennoch hat wohl jeder Mensch Vorstellungen und Ideen, die unsere alltäglichen Sorgen nicht unmittelbar lösen, aber uns darüber heben, zeigen, dass sie nicht das Letzte und Entscheidende sind. Manches daran ist wahr, manches eher Wunschvorstellung. Was wäre, wenn es ein solches Ideal gäbe, das nur Wirklichkeit wäre, nichts als Wirklichkeit? Gott ist Wirklichkeit schlechthin. Er hebt uns , wie es kein Ideal kann. Die Heiligen mit ihrem Mut und ihrer Fähigkeit, alltägliche Sorgen zurückzustellen, sind uns Hinweis, dass Gott Wirklichkeit ist. Vielleicht kann die Adventszeit nicht nur Glühwein und Tannenzweige mit sich bringen, sondern auch den Versuch Gott mehr in den Mittelpunkt zu rücken.