Glaubenszeuge für mich selbst werden

10. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; 2 Kor 4, 13 – 5, 1; Mk 3, 20–35)

Wenn man sich vorstellt, man wäre dabei gewesen, hätte die Szene als Beobachter der damaligen Zeit wahrgenommen, dann wird das Ganze wohl am ehesten verständlich. Jesus muss verrückt sein! Da steht dieser Mann aus Nazareth, unauffällig aufgewachsen und will nun plötzlich als eine Art Prophet und Wunderheiler auftreten. Geht’s noch? Man stelle sich vor, der eigene Cousin würde plötzlich Prophet sein wollen. Das Urteil der Familie ist klar. „Er ist von Sinnen.“ Auch die Schriftgelehrten, also die Fachleute, sind sich einig. Der Mann ist vom Bösen besessen, es kann ja nicht jeder einfach als Prophet auftreten. Wo kämen wir denn da hin? Wird hier nicht ein Grundproblem deutlich, dass Gott mit uns hat? Rückt er uns — ein wenig salopp formuliert — zu dicht auf die Pelle, wie es in Jesus geschehen ist, als Menschen seine heilende, göttliche Kraft unmittelbar erfahren haben, dann neigt man zum Urteil, der spinnt, da kann was nicht stimmen. Ist Gott nur unter Zeichen gegenwärtig wie in der Eucharistie, dann glaubt man es auch nicht, das sind nur menschliche Zeichen, die uns dann auch noch durch fehlerhafte, sündige Menschen in einer fehlerhaften, sündigen Kirche erreichen. Wie soll es dann gelingen? Wie können wir Gottes Nähe erfahren?

Bei solchen Überlegungen muss man immer vorausschicken, dass wir Gottes Nähe nicht machen, nicht herbeizwingen können, sie ist und bleibt Geschenk, wir können uns nur bereiten, dass wir nicht in die eingangs beschriebenen Fallen tappen. Hier gibt uns Paulus in der neutestamentlichen Lesung einen wichtigen Hinweis, indem er manches zu seinem Selbstverständnis sagt. „Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet“, so beschreibt er ganz nüchtern seinen Auftrag mit einem Zitat aus der altgriechischen Übersetzung des Alten Testaments. Er verschweigt nicht die Mühen und Lasten, die das Ganze ihm eingebracht hat, doch er bleibt voller Hoffnung. Der äußere Mensch wird aufgerieben, der innere wird Tag für Tag erneuert, sagt er. Die gegenwärtige Not ist nichts im Vergleich zu dem Übermaß an Herrlichkeit, das den Glaubenden erwartet. Na ja, gut und schön, beeindruckend, wie Paulus zu hoffen vermag, aber was hat das mit mir zu tun? So einfach ist es nicht, denkt vielleicht mancher. Ja, so einfach ist es auch nicht, aber etwas können wir tun, damit wir weder wie die Angehörigen Jesu noch wie die Schriftgelehrten das Entscheidende übersehen: nämlich bereit zu sein für die Hoffnung. Ich weiß, das klingt jetzt ein wenig banal, aber die wichtigen Dingen im Leben klingen oft banal — und sind schwer zu leben. Bereit zu sein für die Hoffnung heißt eben nicht immer schon diesen inneren Riegel vorzuschieben, der mich abschließt, so nach dem Motto: das wird ohnehin nichts, das kann gar nicht sein. Mit der Zeit verhärtet man, man merkt gar nicht mehr, dass man diesen Riegel vorschiebt, man kreuzt gewissermaßen die Arme vor der Brust, zieht die Mundwinkel nach unten. Nein, danke, Hoffnung gibt es für mich nicht. Ja, wir wissen alle, es gibt schwierige Situationen, bittere, verletzende, tragische, schmerzhafte Situationen im Leben, in denen man Hoffnung nicht findet. Vergessen wir nicht, dass Paulus dies auch durchlebt hat. Gefängnis und Folter waren gewiss kein Zuckerschlecken für ihn. Deshalb frage ich vorsichtiger: auch wenn ich momentan keine Hoffnung habe oder meine keine zu haben: bin ich überhaupt bereit für die Hoffnung? Würde ich sie überhaupt wahrnehmen, wenn sie bei mir anklopft? Oder habe ich den Riegel schon innerlich endgültig vorgelegt? Das kann nicht sein, dass das bei mir was wird. Und wenn einer kommt, der von Hoffnung redet, dann sage ich wie die Angehörigen Jesu: er ist von Sinnen. Wenn wir Gottes Nähe erfahren, wenn wir so wie Paulus Hoffnung finden wollen, dann müssen wir auch bereit sein. Fragen wir uns, ob wir den inneren Riegel vorgelegt haben, und versuchen wir ihn gegebenenfalls wenigstens ein bisschen zu lockern.

Bereit sein für die Hoffnung: das scheint mir eine Weise zu sein, um sich für die Erfahrung von Gottes Nähe vorzubereiten. Eine andere begegnet uns in der Reaktion Jesu auf die Vorwürfe, die ihm gemacht werden. Er ist vom Satan besessen, sagen die Schriftgelehrten. Wie kann das sein?, fragt Jesus. Er hat doch Menschen vom Bösen befreit. Wie kann der Satan — quasi der oberste Böse — dazu beitragen vom Bösen zu befreien? Das ist doch unlogisch. So argumentiert Jesus. Und damit weist er dem christlichen Glauben einen einzigartigen Weg: den Weg der Theologie. Im Großen und Ganzen kann man wohl sagen, dass es der christliche Glaube war, der eine solche Wissenschaft entwickelt hat: der Glaube, der das Verstehen sucht, wie es der hl. Anselm von Canterbury gesagt hat, der Glaube, der vor der Vernunft Rechenschaft ablegt, so wie es Jesus selbst getan hat, als er zeigt, dass in der Kritik seiner Gegner ein logischer Widerspruch liegt. Heutzutage neigt man offensichtlich eher dazu, Glaube ausschließlich als ein Gefühl, als etwas Inneres, über das man nicht redet, zu verstehen. So funktioniert es aber nicht, gerade in einer Zeit, in der wir mindestens so angefragt sind wie Jesus damals von den Schriftgelehrten. Papst em. Benedikt hat immer wieder betont, dass Glaube und Vernunft einander brauchen. Gewiss kann und muss nicht jeder Theologe sein, aber in unserer Zeit kommen wir immer weniger darum herum, über unseren Glauben nachzudenken und ihn auch auch mit Argumenten zu rechtfertigen. Es wird immer wieder davon gesprochen, in der Gesellschaft Zeugnis abzulegen. Das stimmt, aber zuerst müssen wir für uns selbst Glaubenszeugen werden, in dem wir über unseren Glauben vor uns selbst Rechenschaft ablegen.

So können wir bereit sein für die Nähe Gottes — anders als die Schriftgelehrten und die Angehörigen Jesu. Es geht darum, bereit zu sein für die Hoffnung, nicht schon einen inneren Riegel vorzuschieben, so dass ich gar nicht mehr mitbekomme, wenn die Hoffnung anklopft. Jesus selbst weist den Vorwurf der Gegner zurück, indem er auf den logischen Widerspruch in ihrer Kritik hinweist. Der Glaube braucht auch das Nachdenken, das Argumentieren, die Rechenschaft vor der Vernunft. So werden wir auch zu Glaubenszeugen für uns selbst und sind bereit für Gottes Nähe.