Die Angst den endgültigen, unumstößlichen Sinn im Leben zu verpassen

12. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Mk 4, 35-41)

Heutzutage scheint eher die Vorstellung verbreitet zu sein, dass Religion Angst verstärkt oder gar erzeugt, als dass sie ein Mittel gegen die Angst ist. Dabei waren religiöse Rituale wohl von Anfang an auch der Versuch, Ängste zu bekämpfen, indem man die höheren Mächte gnädig stimmt. Auch das heutige Evangelium legt einen zumindest vergleichbaren Zusammenhang nahe, wenn Jesus die Jünger fragt: „Warum habt ihr solche Angst? Hat ihr noch keinen Glauben?“ Kann der Glaube wirklich helfen, mit der Angst fertig zu werden?

Vielleicht sind aber auch einfach die Ängste verschwunden, gegen die der Glaube helfen sollte. Menschen fürchteten sich, endgültig verloren zu sein, nicht in den Himmel zu kommen. Deshalb suchten sie Zuflucht bei der Kirche und ihren Sakramenten, die sie gewissermaßen als Gegenmittel betrachteten. Heute lachen Menschen eher über solche Rückständigkeit, eine moderne Gesellschaft hat solche Ängste überwunden. Hat sie das? Vielleicht nennt sie diese Angst nur anders, vielleicht ist sie sogar machtvoller, weil man sie nicht mehr recht wahrnimmt. Warum hört man denn so oft, dass Menschen „sich neu erfinden“? Abgesehen davon, dass man das so gar nicht kann, weil man immer seine Geschichte mitnimmt, steckt da wohl die Angst dahinter, das Entscheidende im Leben verpasst zu haben, den letzten Sinn nicht gefunden zu haben. Behutsam und vorsichtig — eben weil ich Zölibatär bin — frage ich, ob nicht auch die Vielzahl der Scheidungen hiermit zusammenhängt. Ist da nicht auch — zumindest manchmal — die Angst dahinter, irgendwie endgültig zu scheitern, das, was dem Leben endgültigen Sinn gibt, zu verpassen? Man geht einfach die gewohnten Bahnen weiter, ohne viel nachzudenken, und plötzlich gibt es irgendeinen Anstoß, und man stellt die Sinnfrage … und entsetzt erkennt man, dass man nicht die geringste Ahnung hat, welchen Sinn das alles haben soll. Gewiss, viele erleben diesen Anstoß nicht, weil unsere Konsumgesellschaft ja zahlreiche Ablenkungen bietet, aber wenn es soweit ist, lässt sich die Sinnfrage nicht so einfach unterdrücken. Die Angst, den letzten und endgültigen, den unumstößlichen Sinn zu verpassen, ist wirklich.

Und was soll der Glaube damit zu tun haben? Sehen wir genauer auf das Evangelium. Die Jünger suchen in ihrer Todesangst die Nähe Jesu. „Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrundegehen?“ Als Jesus ihnen geholfen hat, ergreift sie wieder große Furcht. Doch das ist nicht die Todesangst, nicht die Angst, endgültig zugrundezugehen, sondern das, was man klassisch „Ehrfurcht“ nennt. Das Berührt-Werden von einem Größeren, der alle Maßstäbe sprengt. In Jesus begegnet ihnen Gott, auch wenn sie das an dieser Stelle so noch nicht formulieren können. Es ist die Nähe des Gottmenschen Jesus, die ihre Angst besiegt. Es braucht also offenbar eine Brücke, eine lebendige Verbindung zwischen uns Menschen und dem endgültigen, unumstößlichen Sinn, der durch nichts erschüttert werden kann. Wer soll dieser letzte Sinn sein — außer Gott, dem Ewigen, Unumstößlichen? Und wer soll diese Brücke sein außer Jesus, der Mensch und Gott zugleich ist, der also beide verbindet? Deshalb sind unsere Sakramente Mittel gegen diese Angst, den endgültigen Sinn zu verpassen, da sie Zeichen der Nähe Jesu sind, der Gott und Mensch zugleich ist, der Brücke und Verbindung zu Gott ist, der allein der Bleibende, der unumstößliche Sinn ist. Ich will an dieser Stelle gleich betonen, dass Sakramente keine Zaubertricks sind, die diese Angst ein für allemal verschwinden lassen. Auch die Jünger werden  sich noch viele Male fürchten. Die Angst, den endgültigen Sinn zu verpassen, ist in irgendeiner Form Teil unseres zerbrechlichen, vergänglichen Daseins. Zu diesem Dasein gehören so auch Hunger und Durst. Auch sie können nicht durch einmalige Einnahme von Nahrung bzw. Flüssigkeit überwunden werden. Die Sakramente können nur ein bleibendes Mittel gegen diese Angst sein — durch die Nähe dessen, der Brücke zu Gott, dem unumstößlichen Sinn ist.

Dennoch scheint diese Einsicht für viele Menschen unserer Zeit kaum noch möglich zu sein. Man stört sich an der Konkretheit der Rituale: Dass da einer ein bisschen Wasser verschüttet und das Taufe nennt, kann doch nicht mit Gott in Verbindung bringen! Und man stört sich natürlich an den Fehlern und der Schuld der Kirche. Dass die Sakramente konkrete, klare und meist eben auch fühlbare Zeichen sind — man denke an Wasser und Öl, an Brot und Wein —, ist kein vernünftiges Argument gegen sie, sondern für sie! Angst zieht ihre Stärke aus dem Unkonkreten, Verschwommenen, Unbekannten. Was wäre, wenn … das macht Angst! Das Gegenmittel gegen die Angst muss konkret und klar sein, eben weil jene Angst verschwommen und nicht konkret ist. Wenn ein geliebter Mensch sich fürchtet, weil er sich ausmalt, was alles schiefgehen kann, helfen Sie ihm, indem sie ihm ganz konkret ihre Nähe zeigen, beispielsweise indem Sie ihn in den Arm nehmen. Mittel gegen die Angst sind konkret, sonst helfen sie nicht.

Dass Menschen Vorbehalte gegen die Kirche wegen ihrer Schuld und Fehler haben, ist — das müssen wir einräumen — durchaus auch verständlich. Und doch: ein Mittel gegen die Angst, den unumstößlichen, letzten Sinn zu verpassen, muss auch in Schuld wirken oder es ist sinnlos. Unser Leben ist immer von Schuld gekennzeichnet. Ja, Schuld ist oft der Ausgangspunkt für die genannte Angst. Die Nähe Jesu ist gerade die Nähe zum schuldigen Menschen.

Die Angst, den endgültigen, unumstößlichen Sinn zu verpassen, gehört zum Menschen dazu, auch wenn unsere Zeit sich alle Mühe gibt, genügend Ablenkung zu bieten. Wenn etwas gegen diese Angst geschehen soll, braucht es eine Brücke, eine lebendige Verbindung zwischen dem Menschen und dem unumstößlichen, endgültigen Sinn. Eben das ist Jesus, der Gott und Mensch zugleich ist, der uns verbindet mit dem, der allein jener endgültige Sinn sein kann: Gott. Die Sakramente wolle also Mittel gegen diese Angst ein, indem sie Zeichen der Nähe des Gottmenschen Jesus sind. Sie können solches Gegenmittel sein, auch weil sie konkret sind, jene letzte Angst ist verschwommen und unkonkret, gegen sie hilft nur, was konkret ist. Diese Nähe Jesu ist gerade auch die Nähe zum schuldigen Menschen. Immer neu rufen wir in unseren Ängsten zu ihm: „Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrundegehen?“