Die tiefere Sehnsucht des Menschen

18. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Joh 6,24-35)

„Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?“ Mit diesem Zitat aus Psalm 34 lädt der heilige Benedikt zu einem Leben in seinem Orden ein, es steht so im Vorwort zur Regel der Benediktiner. Viele Menschen unserer Tage werden das eher seltsam finden. Ein gutes, erfülltes Leben? Dann denkt man eher nicht an ein Kloster und inzwischen wohl auch nicht mehr an das Christentum. Doch an der großen Zahl der Glücksratgeber lässt sich gut erkennen, dass es in unserer Gesellschaft eine mehr und mehr ungestillte Sehnsucht nach Glück gibt. Offenbar empfinden nicht wenige Menschen, dass Glück oder ein erfülltes Leben nicht in den gewohnten Bahnen zu erreichen ist und suchen deshalb nach einer Technik oder einem Ratschlag, der ihnen den Weg weist. Was ist das überhaupt, diese Sehnsucht nach Glück? Und lässt sie sich nicht doch auch im christlichen Glauben stillen?

Im Evangelium des heutigen Sonntags hat Jesus auch mit bestimmten Erwartungen zu kämpfen. Die Menschen, ja man kann vielleicht sogar sagen: die Massen suchen ihn. Eigentlich eine Situation, von der wir heute nur träumen können, und doch ist Jesus nicht zufrieden. Ihr sucht mich, weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid, wirft Jesus den Menschen vor. Dem heutigen Abschnitt geht das Wunder von der Brotvermehrung voraus, von dem wir letzten Sonntag gehört haben. Offensichtlich geht es Jesus um etwas anderes, als die Menschen verlangen. Denen geht es — eigentlich doch ganz nachvollziehbar — um das Satt-Werden, um Behaglichkeit, um Wohlergehen, das ist ihre Sehnsucht. Warum um alles in der Welt passt Jesus das nicht? Vielleicht ist das bis heute unser Grundproblem, dass wir einfach nicht das im Angebot haben, was die Menschen wirklich nachfragen.

In diesem Zusammenhang fällt mir ein Zitat des britischen Schriftstellers C.S. Lewis ein: „Ich habe mich nicht zur Religion bekehrt, um glücklich zu werden. Mir war immer klar, dass dafür eine Flasche Portwein ausreicht. Wenn Sie nach einer Religion Ausschau halten, mit der Sie sich wirklich wohlfühlen, rate ich Ihnen vom Christentum entschieden ab.“ Obwohl es im Christentum offenbar nicht einfach um das Wohlergehen geht, hat sich C.S. Lewis dazu bekehrt und wurde mit seinen Schriften ein Verteidiger des christlichen Glaubens. Schauen wir also genauer hin: Worum geht es in der Sehnsucht des Menschen — und was haben wir als Christen zu bieten?

Es gibt natürlich in uns eine Sehnsucht nach Glück, nach Wohlergehen, nach Zufriedenheit. Sie ist schwer zu benennen und doch weiß jeder intuitiv, also ohne lange nachzudenken, so ungefähr, was gemeint ist. Natürlich geht es dabei auch um mein materielles Wohlergehen, wenn ich nichts besitze, ist es schwer sich weitere tiefgründige Gedanken zu machen — aber es geht eben auch um mehr. Es geht um Sinn, um innere Zufriedenheit, um die Erfahrung von Freundschaft und Liebe. Jeder Mensch kennt wohl in irgendeiner Weise diese Begriffe und hat wohl auch eine Ahnung, was sie bedeuten — und doch werden sie ganz verschieden ausgelegt. Mancher ist der Überzeugung, dass er Sinn in seinem Leben nur haben kann, wenn er auf Wohlergehen verzichtet. Ich denke zum Beispiel an die mutigen Aktivisten, die sich in Hongkong gegen die Großmacht China stellen, für Freiheit und Demokratie eintreten und dabei nichts weniger als ihr Leben riskieren. Doch aufs Ganze gesehen hat der Mensch — diese Verallgemeinerung wage ich —wahrscheinlich eher die Neigung, das Wohlergehen in den Vordergrund zu stellen. Man möchte es angenehm und bequem haben — so wie die Menschen, die das Wunder der Brotvermehrung erlebt haben und nun nach Jesus suchen. Eine solche Quelle angenehmen Lebens lässt man nicht entkommen. Und vielleicht haben sie auch recht. Warum sollen wir als Christen den Menschen irgendetwas Anspruchsvolleres aufladen? Das hat doch bei Jesus schon nicht so recht funktioniert.

Ich glaube, unter dieser Sehnsucht nach Wohlergehen — wenn man so sagen darf — liegt noch etwas Tieferes. Ich will es die Sehnsucht nach wirklicher Nähe nennen. Wenn Sie vor die Wahl gestellt werden, ob Sie einen Freund möchten, mit dem es vielleicht auch mal Streit gibt, weil er Ihnen die Wahrheit, die Sie lieber nicht hören möchten, sagt, oder einem Freund, mit dem Sie es zwar nett haben, aber der seine Freundschaft nur vorspielt — fast alle würden sich wahrscheinlich, ohne zu zögern, für den schwierigen, aber ehrlichen Freund entscheiden. Entspricht es uns Menschen nicht eher, einen anderen Menschen zu lieben, auch wenn das einmal Leid bedeutet, weil der andere krank wird und stirbt — als auf solche Liebe zu verzichten und einen Roboter zu haben, der nicht krank wird und der auf unser persönliches Wohlergehen programmiert ist? Bei aller Sehnsucht nach Wohlergehen, die immer zu unserem Leben gehört, gibt es doch die letztlich tiefere, grundlegende Sehnsucht nach wirklicher Nähe, auch wenn das manches schwerer macht.

Um diese Sehnsucht geht es Jesus. Der Weg, den er seine Jünger weist, ist anspruchsvoll, nicht umsonst werden am Ende dieser Rede einige sich von ihm lossagen, aber auf diesem Weg verspricht er ihnen seine Nähe und in ihm die Nähe Gottes, der das Leben selbst ist. „Mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel“, sagt er. Und als sie nachfragen, antwortet er: „Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern.“ Auf dem Weg Jesu wird es wohl manchmal an Wohlergehen mangeln, da müssen wir uns nichts vormachen, aber es ist der Weg, auf dem unsere Sehnsucht nach wirklicher Nähe gestillt werden wird durch den, der nie ausweicht, der nie vergeht: durch Gott.

Das gute, das erfüllte Leben suchen Menschen immer häufiger nicht bei uns als Christen. Schon die Jünger Jesu machen die Erfahrung, dass es ihm um etwas anderes als einfaches Wohlergehen geht. Es gibt im Menschen eine tiefere, grundlegende Sehnsucht, die Sehnsucht nach wirklicher Nähe, auch wenn das manches schwerer macht. Ein ehrlicher Freund ist besser als ein falscher Freund. Auf dem Weg Jesu wird es manchmal an Wohlergehen mangeln, aber es ist der Weg, auf dem unsere Sehnsucht nach wirklicher Nähe gestellt werden wird durch den, der nie ausweicht, der nie vergeht: durch Gott.