Christentum ohne Kirche ist eine Illusion

23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Jak 2, 1–5; Mk 7, 31–37)

„Jesus ja — Kirche nein“ — so hieß vor vielen Jahren ein Schlagwort der Kirchenkritik. Auch wenn dieses Wort kaum noch zu hören ist, so ist doch das Wesentliche davon ins allgemeine Bewusstsein gesickert. Ablehnung von Kirche bzw. Gleichgültigkeit ihr gegenüber wird dann regelmäßig damit begründet, dass sie ja die ursprüngliche Lehre und Absicht von Jesus verfälsche durch ihre Auslegungen, durch Kompromisse und nicht zuletzt durch ihre Machtspiele. Als Glaubende können wir vernünftigerweise dieser Kritik nicht einfach ausweichen: Stimmt also dieser Vorwurf? Verfälscht die Kirche die Botschaft Jesu durch Auslegung, durch Kompromisse und Machtspiele?

Dass Kirche Fehler gemacht hat und macht — gerade auch da, wo sie über Macht verfügt —, ist wohl inzwischen ein Allgemeinplatz, der eigentlich nicht wiederholt zu werden braucht. Die Anfrage der genannten Kritik geht ja tiefer. Der Kirche bzw. einem Leben in und mit der Kirche wird vorgeworfen an sich schon eine Fehlkonstruktion zu sein, ein andauerndes Missverständnis, eine falsche und anmaßende Auslegung der Lehre Jesu zu sein. An dieser Stelle sei ein kleiner Seitenblick auf die Politik gestattet. In den kommenden Wochen — ganz besonders nach der Wahl — wird wohl mancher damit zu ringen haben, dass Kompromisse geschlossen werden müssen. Auslegen, neu verstehen, Kompromisse — all das gehört in allen Bereichen zum menschlichen Leben dazu. Es gehört ausdrücklich und von Anfang an auch zum christlichen Glauben dazu. Daran erinnert uns die neutestamentliche Lesung aus dem Jakobusbrief, die wir gehört haben. Hier begegnet uns nicht der Wanderprediger und religiöse Lehrer Jesus, sondern bereits die Situation der Kirche. Es geht um eine durchschnittliche christliche Gemeinde, eine Gemeinde, zu der offensichtlich sowohl wohlhabende als auch arme Leute gehören. Man darf durchaus annehmen, dass der Autor des Jakobusbriefs das genannte Beispiel erfunden hat, aber da er offensichtlich ein tatsächlich existierendes Problem ansprechen will, greift er wohl Begebenheiten auf, die so ähnlich stattgefunden haben. Jesus hat Reiche immer wieder und auch mit heftigen Worten kritisiert, aber das bedeutet offensichtlich nicht, dass sie keinen Platz in der christlichen Gemeinde haben. Die Kritik Jesu muss aber dazu führen, dass Arme nicht als minderwertig angesehen werden, so dass der Reiche automatisch den besseren Platz angeboten bekommt und der Arme am Rande stehen muss. Dies kam wahrscheinlich in christlichen Gemeinden vor, und eben das kritisiert der Autor des Jakobusbriefs, der die Christen als Geschwister anredet, denn als solche sollen sie sich begreifen — egal ob arm oder reich.

Im Neuen Testament selbst begegnet uns also schon Kirche, die sich versammelt, die sich immer neu am Beispiel und an der Lehre Jesu messen lassen muss, die diese für ihre Situation zu verstehen versucht und sich dabei auch kritisiert lassen muss. Das kurze Beispiel aus dem Jakobusbrief zeigt, dass dies von Anfang an dazugehört, ein Kirche-freies Christentum ist eine Illusion — und wenn wir das Neue Testament wirklich als Maßstab begreifen, etwas, das es auch nicht geben kann.

Das Wirken Jesu selbst zeigt, dass Auslegen und In-die-eigene-Situation-Übertragen tatsächlich von Anfang an dazugehören. Immer wieder bezeugt das Neue Testament, dass Jesus die Menschen lehrt, indem er sie durch Gleichnisse zum Nachdenken anregt. Auch im Jakobusbrief wird die kleine Geschichte vom Armen und Reichen mit einer Reihe von Fragen beantwortet. Die Adressaten des Briefs sollen selbst nachdenken und so einsehen, dass eine Bevorzugung des Reichen nicht dem Vorbild Jesus entspricht. Sie sollen selbst entdecken, was die Botschaft Jesu in ihrem konkreten Leben bedeutet. In der Heilungsgeschichte, die wir heute gehört haben, öffnet Jesus dem Taubstummen Ohren und Mund, eröffnet ihm so die Möglichkeit, Jesu Botschaft zu hören und auch weiterzugeben. In der Taufe gibt es den Effata-Ritus, bei dem der Taufspender Ohr und Mund des Kindes berührt. Getauft-Sein ist auch ein Auftrag: von Gott zu hören, das Gehörte in mein Leben zu übertragen und es auch weiterzugeben.

Diese Haltung des Auslegen, des Verstehen-Wollens, die von Anfang an zum Christentum gehört, fehlt heutzutage oft in unserer Gesellschaft, und es ist daher auch kein Wunder, dass man sie dem christlichen Glauben vorwirft. Es tut allerdings der Gesellschaft — vorsichtig gesagt — nicht gut, dass es an dieser Haltung mehr und mehr mangelt. Stattdessen kann man oft Gleichgültigkeit gegenüber zentralen Fragen des Lebens und gerade des Miteinander-Lebens feststellen. Wenn dann aber ein Thema — aus welchen Gründen auch immer — hochkommt, dann kippt die Gleichgültigkeit bei nicht wenigen plötzlich in eine kompromisslose Haltung, die nicht mehr kritisiert werden darf, man kann das beispielsweise in Umweltfragen beobachten. Dieses Schwanken zwischen Gleichgültigkeit und Kompromisslosigkeit zerreißt eine Gesellschaft und bewirkt eben keinen Fortschritt.

Vielleicht ist der Grund dafür, dass eine solche Haltung des Verstehen-Wollens, des In-die-eigene-Situation-Übertragens einen Maßstab voraussetzt, den ich nicht gemacht habe, eine Wahrheit, um die ich mich bemühen muss, die nicht einfach von meinem Blickwinkel abhängt, Wahrheit, wie sie uns im Glauben an Gott, der um unseretwillen Mensch geworden ist, gegeben ist. Wo ein solcher Maßstab nicht mehr vorhanden ist, kann jede augenblickliche Stimmung absolut gesetzt werden — egal ob es Gleichgültigkeit ist oder mein Plan zur Rettung der Welt. Der Mensch, der sich ohne Gott retten will, verliert sich.

Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments hat Gott diesen letzten Maßstab selbst in Jesus Christus gesetzt. Es gibt nicht einfach eine Kirche-freie Nachfolge Jesu, wie es auch die heutige Lesung aus dem Jakobusbrief bezeugt. Hier begegnet uns schon Kirche, die sich versammelt, die darum ringt, die Botschaft Jesu in ihrer konkreten Situation zu verstehen und zu leben. Jesus selbst wollte dieses Verstehen und die Anwendung ins eigene Leben, indem er immer wieder mit Gleichnissen und Beispielen lehrte. Unserer Gesellschaft wird diese Haltung des Verstehen-Wollens, des Auslegens immer fremder, man schwankt in zentralen Fragen eher zwischen Gleichgültigkeit und kompromisslosem Engagement. Vielleicht liegt es auch daran, dass ein letzter Maßstab fehlt, eine Wahrheit, um die ich mich bemühen muss, die nicht einfach zur Verfügung steht — Wahrheit, die uns im menschgewordenen Gott gegeben ist. Wo solcher Maßstab fehlt, kann jede Stimmung absolut gesetzt werden. Der Mensch, der sich ohne Gott retten will, verliert sich.