Wir leben von der Treue der anderen

27. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; Hebr 2, 9–11; Mk 10, 2–12)

Umfragen ergeben: Treue ist für die meisten Menschen von besonderer Wichtigkeit. Dennoch wird ein Großteil der Ehen wieder geschieden. Im Bereich der Umwelt ist Nachhaltigkeit für viele von wachsender Bedeutung, im zwischenmenschlichen Bereich dagegen werden Verlässlichkeit und Verbindlichkeit zwar irgendwie geschätzt, doch zugleich werden sie seltener als manche vom Aussterben bedrohte Tierart — ein bisschen zugespitzt formuliert. In dieser gesellschaftlichen Atmosphäre kann das Jesus-Wort „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ nur als ein Fremdkörper wirken. Was fangen wir also damit an? Können wir Treue, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit überhaupt noch einen Wert zubilligen, der über eine Floskel hinausgeht? Und wenn ja — welchen?

Mein Eindruck ist — wie ich gelegentlich sage —, dass gerade in unserer Kirche das Nachdenken über das Grundsätzliche, über die zentralen Fragen des Glaubens fehlt, und das sollte doch Grundlage sein, wenn wir überlegen, wie wir heute Kirche sein wollen. Ich will also an dieser Stelle die bereits genannte Frage nach Treue und Verbindlichkeit in einem größeren Rahmen aufwerfen, sie nicht nur auf die Ehe begrenzen. Einerseits wird Treue als ganz großer Wert angesehen und in in Hochzeiten regelrecht gefeiert: Du bist mein Lebensmensch, ohne dich geht gar nichts mehr, so oder ähnlich heißt das dann, gerade auch in den musikalischen Beiträgen. Andererseits feiert unsere Gesellschaft den Wandel, die Veränderung, die Fähigkeit aufzubrechen und neu zu beginnen — was dann tatsächlich oft nichts anderes heißt, als Menschen zu verlassen und Brücken hinter sich abzubrechen. Ein seltsamer Zwiespalt ist da zu beobachten: Treue, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit sind Werte, die offensichtlich geschätzt werden — gerade auch bei Freunden —, aber oft als ein Ideal, dem man huldigt, von dem man aber auch weiß, dass es so gut wie unerfüllbar ist. Und so feiert man doch wieder den Neuanfang, das Aufbrechen alter Beziehungen, weil man weitergehen muss, um sich weiterzuentwickeln, oder wie man das nennen mag. Sind Treue und Verbindlichkeit also alte Hüte, so realistisch wie das Ende eines Märchens, in dem alle von nun an, da die Hexe tot ist, glücklich und problemlos bis zum Tode leben?

In der Lesung aus dem Hebräerbrief wird Jesu Weg ans Kreuz ganz nüchtern als angemessen bezeichnet. Es ist angemessen, dass der Weg der Versöhnung von Gott und Mensch ein Weg ist, der beide — ein wenig vereinfacht gesagt — etwas kostet, wie es bei wahrer Versöhnung wohl immer der Fall ist. Im Rückblick lässt sich das leicht sagen, Jesus hatte aber mit seinem Weg zu ringen, man denke nur an das Gebet am Ölberg: Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Jesus ist seinem Auftrag treu geblieben, aber das hat ihn Mühe gekostet, manches Ringen mit sich und dem Vater — und auch die Bereitschaft zu lernen. Den Gehorsam hat er gelernt, so sagt es der Hebräerbrief an anderer Stelle, so ist er Gott treu gewesen. Fides im Lateinischen bedeutet Treue, aber auch Glauben. Jesu Beispiel zeigt also, dass Treue, Verlässlichkeit und auf der anderen Seite Wandel, Lernen und Sich-Verändern durchaus in einem letztlich einander bedingenden Verhältnis stehen, dass Treue nicht einfach Stillstand und Angst vor Veränderung ist — jedenfalls nicht im biblischen Sinne.

Wenn ein Mensch sich in einem guten Sinne verändert, dann sagt man doch oft, er ist gereift. Das ist ein Bild aus der Natur, Früchte reifen, dass heißt, sie entwickeln sich zu der Fülle, der Vollgestalt, die in ihnen schon angelegt ist. Wenn ich sage, ein Mensch reift, dann meine ich nichts anderes. Das setzt voraus, dass es auch für den Menschen eine solche Fülle, eine solche Vollgestalt gibt, auf die er — auch unter Mühen — zugehen muss, so wie es Jesus selbst getan hat. Seine Fülle war die göttliche Fülle, der Auftrag des Vaters. Unsere Fülle ist unsere ganz persönliche Art, das Bild Gottes zu sein, so wie Gott uns gedacht hat. Ansonsten gibt es kein Reifen, nur Veränderung, Wandel — als Vorspiel für das endgültige Nichts, um es einmal hart zu sagen.

Treue und Verlässlichkeit auf der einen Seite und Wandel, Lernen und Veränderung auf der anderen Seite sind also kein Widerspruch, wenn wir sie im biblischen Sinne begreifen: als Weg zu unserer Vollgestalt, zu unserer ganz persönlichen Art und Weise Gottes Bild zu sein. Diesen Weg zu gehen ist oft genug mühsam, wie es das Beispiel Jesu zeigt, er schließt die Bereitschaft ein manche Lektion zu lernen, auf die man lieber verzichtet hätte — aber er fordert nicht, einfach Brücken hinter sich abzubrechen oder auf Verlässlichkeit zu verzichten. Ist es nicht so, dass viele, die für sich das Recht auf Wandel beanspruchen und Brücken hinter sich abbrechen, letztlich davon leben, dass andere verlässlich sind? Dass sie Orte finden, wo Menschen sind, die ihnen verlässlich zuhören? Dass sie Menschen begegnen, die Erfahrung haben, eben weil sie verlässlich und treu sind? Leben wir nicht alle von Menschen, die verlässlich ihren Dienst tun — in Krankenhäusern und Polizeirevieren, in Arztpraxen und Pflegeheimen? Ich bin überzeugt, dass Menschen die das hohe Lied auf das „Sich-neu-Erfinden“ und den radikalen Wandel singen, in vielfacher Hinsicht von anderen Menschen und deren Verlässlichkeit und Treue leben.

Vielleicht ist ihnen manches an diesen Überlegungen ein wenig zu allgemein gewesen, aber es ging mir darum, für unser Denken ein paar Anstöße zu geben. Das ist letztlich immer der Anfang von Veränderung. „Denkt neu!“, so könnte man Jesu Ruf „Kehrt um!“ auch übersetzen. Einerseits werden Treue und Verlässlichkeit heute durchaus wertgeschätzt, anderseits werden Wandel und Neuanfang gefeiert, auch wenn sie das Abbrechen von Brücken hinter sich verlangen. Gerade das Beispiel Jesu aber zeigt: Treue und Verlässlichkeit auf der einen Seite und Wandel, Lernen und Veränderung auf der anderen Seite sind kein Widerspruch, wenn wir sie als Weg zu unserer Vollgestalt, zu unserer ganz persönlichen Art und Weise Gottes Bild zu sein verstehen. Gerade die, die sich neu erfinden wollen, die Brücken hinter sich abbrechen, leben doch letztlich ganz besonders von der Verlässlichkeit und der Treue anderer. Gebe Gott uns stattdessen die Kraft und die Einsicht, den Weg zur Fülle miteinander zu gehen.