Größe im anderen erkennen — ohne sich klein zu fühlen

4. Adventssonntag (Lesejahr C, Lk 1,39-45)

Schneller, höher, weiter — so scheint vielfach das Motto unserer Zeit zu sein. Konkurrenz belebt das Geschäft nicht nur, sondern macht es aus. Ich muss besser sein als der andere — nur dann zähle ich. Groß sein, der Erste sein, das heißt, den anderen klein zu halten. Eine ganz andere Haltung begegnet uns im heutigen Evangelium. „Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“, ruft Elisabeth aus. Sie, die selbst ihre Schwangerschaft im hohen Alter als Wunder erlebt, erkennt neidlos, ja sogar freudig die Größe Marias an, sie ist die Mutter des Herrn, die — so Elisabeth — in besonderer Weise von Gott gesegnet ist. Ist es tatsächlich möglich, Größe im anderen zu erkennen, ja anzuerkennen — ohne sich selbst klein zu fühlen?

Es gibt zwei Arten von Größe: selbst groß zu sein oder die Größe im anderen zu erkennen, sagte Romano Guardini. Was Größe ist, lernen wir zuerst — wie wahrscheinlich das meiste — im Blick auf die anderen: bei Menschen, die uns beeindrucken, denen wir etwas verdanken. Was Größe ist, lerne ich nicht, wenn ich hier gleich einen Riegel vorschiebe, um mich selbst zu schützen. Warum glaube ich überhaupt, dass ich mich schützen muss? Ist die Bewunderung, die wir für einen anderen empfinden, die Erfahrung von Größe, die wir in Bezug auf einen anderen machen, nicht zunächst etwas, das kein Urteil über uns selbst enthält? Warum also das Bedürfnis sich zu schützen? Vielleicht weil andere uns verletzt haben, weil andere uns messen. Der da ist größer, schneller, intelligenter als du. Und so schleicht sich nicht einfach nur Neid ein, sondern das Bedürfnis nach Wertschätzung des eigenen Selbst wehrt sich, und das geht am leichtesten, indem man den anderen abwertet. So toll ist der auch wieder nicht. So wird nicht nur eine ursprüngliche Erfahrung zerstört, sondern auch die Fähigkeit echte Größe zu erkennen — auch und gerade in mir selbst! Dann geht es plötzlich nur darum, wer meine Karriere fördert, wer meine Ansichten teilt und mich bewundert, wer mir nützlich ist. Das ist aber nicht wahre Größe, sondern Nützlichkeit im Karriere-Plan. Wahre Größe zu erkennen und wertzuschätzen lerne ich im Blick auf die anderen. D a n n kann ich sie auch in mir finden.

Wie reagiert nun eigentlich Maria auf die Seligpreisung durch Elisabeth? Das Evangelium des heutigen Sonntags unterschlägt uns den Fortgang. Maria sagt: „Meine Seele preist die Größe des Herrn“, es folgt jener poetische Text, der als Magnifikat bekannt wurde und Tag für Tag in der Vesper, dem Abendgebet der Kirche, gebetet wird. Sie antwortet also nicht, indem sie Elisabeth recht gibt, ihr zugesteht, dass sie ihre Größe erkannt hat, sie weist auch nicht verschämt zurück, was Elisabeth gesagt hat — nein, alles mündet in das Lob Gottes, in den Lobpreis seiner Größe. Beide Frauen haben ihren unersetzlichen Platz in der Heilsgeschichte und so erinnert die Kirche bis heute an beide. Größe im anderen zu erkennen, bedeutet letztlich nicht zu messen, zu sagen, der ist größer, wichtiger als ich oder als andere. Größe im anderen zu erkennen, bedeutet, dass ich im anderen eine besondere Tiefe wahrnehme, dass ich erkenne, dass der andere er selbst ist — aus dem Glauben gesprochen: dass er seine Berufung lebt. Elisabeth kann nicht Maria sein und umgekehrt, jede hat ihre eigene Berufung in der Geschichte Gottes mit den Menschen, deshalb mündet die Anerkennung ihrer Größe in den Lobpreis der Größe Gottes, der diese Berufung ausgesprochen hat. Es geht also nicht darum, mich selbst klein zu fühlen, wenn ich die Größe des anderen anerkenne — Größe in diesem Sinne ist keine Kategorie zum Vergleichen —, sondern es geht darum, meiner eigenen Größe auf die Spur zu kommen, was letztlich nichts anderes bedeutet, als meine eigene Berufung zu entdecken.

Wenn ich — um mich selbst zu schützen — andere herabsetze, die Augen vor der Größe anderer verschließe, dann bekomme ich selbst mit der Zeit ein Problem. Größe zu erkennen ist — wie schon gesagt — etwas, das ich im Blick auf den anderen lerne, etwas, das ich beim anderen unwillkürlich wahrnehme und dann verarbeite. Wenn ich mir das abtrainieren will, weil ich meine, mich nur so selbst schützen zu können, dann muss ich mich verstellen, muss — letztlich sogar vor mir selbst — verleugnen, dass ich da im anderen Größe wahrnehme. Nein, nein, das ist keine Größe, das ist nur Aufgeblasenheit, Wichtigtuerei. Das ist allerdings nicht gesund. Man muss wohl nicht Psychologie studiert haben, um das zu verstehen. Wenn ich mich selbst verstelle, mich in gewissem Sinne selbst belüge, wird das Konsequenzen haben, die nicht nur etwas mit dem Thema „Größe“ zu tun haben. Ich verliere mehr und mehr das Gespür für andere und für mich selbst. Ich baue eine Kulisse auf, von der ich mir einrede, das bin ich. Sicher, wir Menschen sind Einbildungskünstler, und das mag lange gut gehen, aber es zerfrisst Menschen von innen. Es braucht nicht immer eine schwere Krise zu sein, die solche Kulissen zum Einsturz bringt. Je mehr Aufwand ich brauche, um anders zu sein, anders zu scheinen, als ich wirklich bin, desto schwieriger wird es.

Maria und Elisabeth zeigen uns einen anderen Weg. Zwei Frauen begegnen sich auf Augenhöhe. „Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“, kann die eine ausrufen, ohne irgendwie minderwertig zu erscheinen. Und Maria muss den Ausruf nicht verschämt zurückweisen, sondern lässt ihn in das Gotteslob münden: „Meine Seele preist die Größe des Herrn“. Wahre Größe zu erkennen, lerne ich im Blick auf den anderen. Wenn ich meine, mich schützen zu müssen, weil andere vergleichen, und deshalb Größe im anderen verleugne, verlerne ich Größe wahrzunehmen — auch bei mir selbst. Letztlich geht es nicht um Vergleiche, ich nehme wahr, dass der andere er selbst ist, dass er seine Berufung lebt. Wenn ich mich verstelle, mich selbst belüge, um solche Größe zu verleugnen, schadet es mir selbst. Folgen wir dem Beispiel Marias und lassen alle Erkenntnis von Größe in das Gotteslob, in das Lob seiner Größe münden!