Dienstleistungsagentur oder Glaubensgemeinschaft?

4. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B; Joh 10, 11-18)

Kirche hat in unserer Zeit — um es vorsichtig zu sagen — nicht gerade den besten Ruf. Das ist vielleicht in der gegenwärtigen Zuspitzung neu, aber insgesamt eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Neu scheint mir hingegen, dass auch mehr und mehr Mitarbeiter der Kirche öffentlich von ihr Abstand nehmen. Vor einiger Zeit las ich die Vorstellung einer neuen pastoralen Mitarbeiterin in einer Seelsorgeeinheit, die für mich eher nach einer Begründung für einen Kirchenaustritt als nach dem Antritt einer neuen Stelle klang. In diesem gesellschaftlichen und innerkirchlichen Klima feiern wir den heutigen Weltgebetstag für die geistlichen Berufe. Ist das jetzt nur noch eine Pflichtübung, so nach dem Motto: irgendwer soll bei der Kirche arbeiten, aber bitte nicht meine Kinder, meine Enkel? Was können, was dürfen wir noch vom geistlichen Amt in unserer Zeit erwarten? Was macht den Guten Hirten aus?

Nein, die Antwort lautet nicht: das, was zu allen Zeiten von ihm erwartet wurde, so wie es im Evangelium heißt: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“ Gewiss bleibt dieses Wort — in Verbindung mit dem Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift — Maßstab für ein geistliches Amt, aber jede Zeit muss neu entdecken, was dies für sie bedeutet. Kirche ist immer „ecclesia semper reformanda“, d.h. stets zu erneuernde Kirche, Kirche, die ihren Weg durch die Zeit geht und sich dabei nach und nach erneuern muss. Das sei jenen gesagt, die heute eine bestimmte Gestalt von Kirche quasi dauerhaft einfrieren wollen, aber genauso jenen, die meinen, sie könnten eine Revolution herbeischreien oder -demonstrieren. Wenn Priester — und ich bin sicher, das gilt auch für andere pastorale Berufe — ihre erste Stelle antreten, sind sie im Normalfall voller Enthusiasmus, das, was sie gelernt haben, worauf sie vorbereitet wurden, zu leben und umzusetzen. Und nicht wenige von ihnen sind vom Ideal des Guten Hirten geprägt. Und dann kommt der harte Aufprall in der Wirklichkeit, die eben kein idyllischer Don-Camillo-Film in Schwarzweiß ist. Heute ist jeder seine eigene Herde, will selbst bestimmen, wo es lang geht. Man stößt nicht auf eine Herde, sondern auf eine knallharte Dienstleistungsgesellschaft. Die einen, die wenig oder so gut wie keinen Kontakt zur Kirche haben, erwarten dann aber den perfekten, für sie abgestimmten Service, z.B. die Beerdigung des Angehörigen zu genau der Zeit und zu den Vorgaben, die sie wünschen. Dass man mehrere Gemeinden zu betreuen hat? Geschenkt! Ich frage ja im Restaurant auch nicht nach, ob gerade genug Personal in der Küche da ist, wenn ich was zu essen bestelle. Die einen wollen die perfekte Trauung, die perfekte Erstkommunion — Pandemie hin oder her —, doch auch jene, die in engerem Kontakt zur Kirche stehen, sind inzwischen an Dienstleistungen gewohnt: wichtig ist der Gottesdienst in meiner Kirche, zu der Uhrzeit, die mir passt. Was bleibt da vom Guten Hirten?

Es ist offensichtlich, dass unsere Kirche — wie letztlich unsere ganze Welt — in einem Transformationsprozess steckt, wie man das so schön sagt. Das bedeutet nichts anderes, als dass alles im Umbruch ist, und niemand im Moment so genau weiß, wohin die Reise geht. Die Hingabe des Guten Hirten besteht m.E. in dieser Zeit vor allem darin, eben diese Ungewissheit auszuhalten im Vertrauen auf den Heiligen Geist — und eben das im Blickfeld der Gemeinde, ja der Öffentlichkeit insgesamt. Dieser Umbruch ist aber auch eine Anfrage an jeden einzelnen: was ist mir die Frohe Botschaft wert? Ist sie nur ein Rahmen von Traditionen für mein Leben, eine Quelle von Dienstleistungen oder eine echte Quelle der Hoffnung? Ein geistliches Amt zu haben bedeutet hier nicht einfach Lösungen zu haben oder immerwährende Fröhlichkeit vorzuspiegeln, sondern zu ermutigen, indem man solche Ungewissheiten aushält im Vertrauen auf die Führung des Heiligen Geistes. Kirche hat Zukunft, auch wenn diese anders aussehen wird, als wir es gewohnt sind.

Und doch bleibt die Grundspannung zwischen dem Hirtenamt und der Selbstbestimmung des Menschen, die sich durch die Krise unserer Kirche hindurchzieht. Bin ich nicht mein eigener Herr? kann ich nicht selbst entscheiden, woran ich glaube, wie ich lebe? Dazu gäbe es viel zu sagen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist. Der christliche Glaube besteht allerdings gerade auch darin, dass ein Anspruch von außen an mich herangetragen wird, der mir in Jesus begegnet. Der Gute Hirte, der die Schafe führt, auf dessen Stimme sie hören, ist ja immer zuerst und im eigentlichen Sinne kein Amtsträger der Kirche, sondern Jesus selbst. Natürlich entbindet mich dies nicht von meiner Gewissensentscheidung, die — das wissen wahrscheinlich viele nicht — durchaus eine Rolle in der Tradition der Kirche spielt. Gerade Thomas von Aquin, der mittelalterliche Theologe, dessen besonderer Rang auch von der Kirche ausdrücklich anerkannt wurde, hat die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung betont. Doch diese bedeutet nicht unhinterfragt nach Lust und Laune zu handeln, sondern sich mit Gründen und nach reiflicher Überlegung zu entscheiden. Eine Gewissensentscheidung bedeutet also, die Gegebenheiten des Lebens, die mir nicht immer passen, genau zu prüfen, verschiedene Argumente zu bedenken und dann zu entscheiden. Es geht nicht darum, sich eine Welt nach eigenen Vorstellungen zu malen. Das Gewissen ist nicht unfrei, wenn es sich kein Wolkenkuckucksheim erträumt, sondern von Gegebenheiten ausgeht. Das gilt auch im Bereich der Religion. Hier ist die Botschaft Jesu, wie sie mir in der Kirche begegnet, die Gegebenheit, zu der ich mich verhalten kann — nicht indem ich mir Jesus male, wie es mir passt, sondern indem ich seine Stimme höre und entscheide, ob ich ihr folge.

Ein geistliches Amt in der Tradition dieses Guten Hirten zu leben ist nicht einfach. In unserer Zeit will man eher Dienstleistungen in Anspruch nehmen, anstatt zur Herde zu gehören. Den Umbruch auch in der Kirche mit den damit verbundenen Ungewissheiten im Blickfeld der Gemeinde und auch der Öffentlichkeit auszuhalten — das sehe ich als Hingabe des Guten Hirten heute. Eine freie Gewissensentscheidung geht hervor aus von den Gegebenheiten des Lebens, die einen fordern. Jeder darf entscheiden, ob er der Stimme Jesu, des Guten Hirten folgt. Es lohnt sich. Vielleicht gerade heute.