Verwurzelt sein, ohne verbohrt zu sein

5. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B; Joh 15, 1-8)

Weltläufigkeit gegen Heimatverbundenheit, verbohrter Kleinbürger gegen zukunftsoffenen Weltbürger — mit solchen und ähnlichen Begriffspaaren wird die zunehmende Spaltung in unserer Gesellschaft beschrieben. Und noch schlimmer wird es, wenn das Thema Religion dazukommt. Diese ist für nicht wenige in unserer Gesellschaft inzwischen der Inbegriff von Verbohrtheit und Rückständigkeit. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben … getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“, sagt Jesus Christus. Nicht gerade verbohrt oder gegen jede Veränderung, aber doch in ihm verwurzelt zu sein — das verlangt Jesus von den Seinen. Spielen wir nicht damit jenen in die Hände, die uns als verbohrte Kleinbürger ansehen, die jeder Veränderung entgegenstehen? Oder deutet sich vielleicht sogar ein Weg an, die genannte Spaltung zu überwinden?

Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung haben darin einen der wesentlichen Gründe der Spaltung ausgemacht: Menschen, die sich Werten wie Heimat, Tradition und vielleicht sogar Glauben verbunden fühlen, erleben sich als abgehängt von jenen, die sich eher als Weltbürger ansehen, für die Veränderung ein wichtiger Wert an sich ist, weil unsere Welt dringend einen Neuanfang braucht. Diese Beobachter sehen bei den Tradtitionsverbundenen die Gefahr der Verbohrtheit, der grundsätzlichen Ablehnung von Veränderungen in einer sich verändernden Welt, während sie bei den anderen eher Respektlosigkeit gegenüber Menschen mit einer anderen Prägung und einer anderen Geschichte als Gefahr sehen. Das stimmt aber m.E. so nicht ganz. Verbohrtheit und Respektlosigkeit kommen überall vor. Auch und gerade der, dessen hohes Ideal Freiheit und Weltoffenheit sind, kann in eben diesen Ansichten so verbohrt sein, dass er anderes gar nicht mehr wahrnehmen kann. Sicher, er hat gute Gründe dafür, aber die haben immer alle. Ein bisschen zugespitzt gesagt: die hatte auch die Inquisition im Mittelalter und der Terrorist unserer Tage. Nicht nur Respektlosigkeit, sondern auch Verbohrtheit ist kein Vorrecht derer, die sich Traditionen oder Glauben verbunden fühlen, verbohrt sein sein kann jeder, auch und gerade der, der sich seiner Fortschrittlichkeit rühmt — und deshalb jeden abstrafen will, der es wagt nicht genauso zu denken wie er! Willkommen in der schönen neuen Welt!

Und genau hier kommt das Verwurzelt-Sein in Christus ins Spiel, das das Evangelium von uns im Bild des Weinstocks und der Reben fordert. Das Bild zeigt uns etwas Wesentliches: es geht nicht um die Verwurzelung in etwas Totem, es geht nicht um Wurzeln, die sich im Boden entfalten, sondern es geht um etwas Lebendiges, es geht um den Weinstock und die Reben. Wir sollen nicht in einem Ideal verwurzelt sein, sondern in Ihm, dem Lebendigen schlechthin, in Jesus Christus! Die Verwurzelung nur in einem Ideal, einem abstrakten Wert, ist sehr in der Gefahr über kurz oder lang in Verbohrtheit zu münden. Das Ideal hat nichts Lebendiges, es gibt kein Echo, widerspricht nicht. Es lässt sich — gewiss unter der Hand und mit der Zeit — umbiegen, so dass ich vielleicht immer noch überzeugt bin, der Fortschrittlichkeit, dem Umweltschutz, der Gerechtigkeit oder ja, auch dem Glauben zu dienen, längst jedoch nur noch meine eigenen Vorstellungen als Erlösung für die Welt anpreise und — wehe, es wagt jemand zu widersprechen! Der würde sich ja gegen die höchsten Ideale stellen! Ja, auch der Glaube ist in dieser Gefahr, eben da wo er nicht mehr lebendige Christus-Beziehung ist, sondern nur noch ein Wert ist, eben ein Ideal, ein Rahmen für die Rituale, die der Mensch halt braucht. Irgendwoher müssen ein paar sinnstiftende Werte ja kommen … Verwurzelung im lebendigen Christus hingegen ist Beziehung, Spannung, ist Korrigiert-Werden, ist Halt-Finden … ist Verwurzelung ohne Verbohrt-Sein.

Ich weiß schon, der Einwand liegt auf der Hand, dieses Verwurzelt-Sein ist auf seine Weise auch ein Ideal, wenn auch ein lebendiges. Es ist schwer zu verwirklichen. Freikirchen sagen, man müsse Jesus einfach als Erlöser annehmen, das begründet die Verbundenheit. In Bibeln, die solche Gruppierungen verteilen, ist dann manchmal ein kurzer Text im Anhang: Heute nehme ich Jesus als meinen Erlöser an, Datum und Unterschrift muss man ergänzen. Das scheint mir ein bisschen zu formal zu sein, klingt irgendwie einseitig, unlebendig. Für uns als Katholiken ist das Sakrament der Taufe der entscheidende Schritt der Einwurzelung in Jesus. Hier zeigt sich die Bedeutung von Kirche, zeigt sich, dass dieses Geschehen ein Geschenk ist, das ich nicht einfach machen, nehmen kann. Niemand kann sich selbst taufen. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“, sagt Jesus ein paar Verse nach dem Abschnitt, den wir heute gehört haben, wir hören das nächsten Sonntag. Es braucht auch die Gemeinschaft der Kirche, dass diese Verwurzelung in Jesus möglich ist, dass er nicht zum toten Ideal verkommt, das ich mir bastele, sondern dass ich wirklich ein Gegenüber erfahre. Doch auch unsere Kirche scheint ebenso gespalten und gelähmt wie die ganze Gesellschaft. Es ist nun nicht mehr der Raum, auch dazu noch viel zu sagen, aber Kirche ist ein lebendiges Miteinander-Suchen nach dem Weg, den der Heilige Geist uns führen will, daran muss uns das nahende Pfingstfest erinnern. Kirche ist weder Diktatur der Amtsträger noch Stimmungsdemokratie, die den neuesten Meinungsumfragen folgt. Wahrscheinlich müssen wir mehr um diesen Geist beten, damit jenes Miteinander wachsen kann.

Spaltung scheint in gewisser Hinsicht das große Thema unserer Zeit zu sein. Verbohrtheit ist allerdings nicht nur die Versuchung einer Gruppe, die sich als traditionsverbunden sieht. Verbohrtheit lauert immer da, wo es letztlich um ein totes Ideal geht, sei es nun Fortschrittlichkeit — oder auch Religion. Das Evangelium zeigt uns einen anderen Weg: Verwurzelt-Sein in Christus. Hier geht es nicht um ein totes Ideal, das nicht antwortet und das ich mir irgendwie und unter der Hand zurechtbiegen könnte, sondern um eine lebendige Beziehung, um Korrigiert-Werden und Halt-Finden. Es ist bleibende Aufgabe der Kirche hierbei zu helfen — wenn man so sagen kann —, Christus lebendig zu halten. Sie muss dazu Gemeinschaft sein, die miteinander nach dem Weg sucht, den der Heilige Geist uns heute führen will. So kann gelingen, worauf es ankommt: Verwurzelt zu sein, ohne verbohrt zu sein.