Sich in andere hineinversetzen, ohne ihnen nach dem Mund zu reden

5. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B; 1 Kor 9, 16–19.22–23; Mk 1, 29–39)

„Allen recht getan ist eine Kunst, die keiner kann“, weiß der Volksmund, und doch — seien wir
ehrlich — wird es oft genug erwartet, gerade in der Kirche. Die neutestamentliche Lesung, die wir
gehört haben, scheint diesem Ansatz recht zu geben: „Allen bin ich alles geworden, um auf jeden
Fall einige zu retten“, schreibt der Apostel Paulus. Muss das in diesen schwierigen Zeiten nicht
Anstoß für uns als Kirche sein, um den Menschen entgegenzukommen? Um in einer vielfältigen
Gesellschaft nicht beleidigt abseits zu stehen, sondern den Menschen mit ihren unterschiedlichen
Erwartungen entgegenzukommen? Und auch im Privatleben spürt man mehr und mehr die
unterschiedlichen Erwartungen von Menschen mit ihren verschiedenen Lebensentwürfen. Muss
ich auch da „allen alles werden“ — jedenfalls soweit ich kann?
Als Kirche — oder genauer gesagt: als pastoraler Mitarbeiter, als Pfarrer spürt man diese
Herausforderung sehr genau. Was soll man nicht alles sein! Trauerredner und Hochzeitsplaner,
Organisator und Bauherr, Religionslehrer usw. Und wehe man entspricht nicht genau der
Vorstellung, die andere sich gemacht haben! Und doch gilt eben: „Allen recht getan ist eine Kunst,
die keiner kann“ … Bei der Betrachtung der neutestamentlichen Texte dieses Sonntags fällt auf,
dass eine gewisse Spannung in ihnen liegt. Paulus streicht heraus — wie schon gesagt —, dass er
sich müht, allen alles zu werden, während Jesus sich den Ansprüchen der Menschen entzieht.
Klar, die Menschen wollen geheilt werden, damit ist Jesus der Star schlechthin, sie drängeln sich
vor seiner Haustür, die ganze Stadt ist versammelt, so sagt es der Evangelist Markus. Und was tut
Jesus? Er entzieht sich. Zunächst — auch das ist interessant —, um zu beten. Auch Jesus kann
nicht rund um die Uhr funktionieren. Auch er braucht Zeit zum Gebet, zur inneren Einkehr. Doch
die Leute sind gnadenlos. Am Abend waren alle vor seiner Haustür versammelt und am frühen
Morgen heißt es schon wieder: „Alle suchen dich.“ Doch nun entzieht Jesus sich aus einem
anderen Grund. Er muss auch in die anderen Dörfer gehen. Nicht um da vor allen Dingen den
großen Heiler zu geben — das macht beliebt —, sondern — oh Schreck! —, um zu verkünden.
Und Jesus sagt es ausdrücklich: eben dazu ist er gekommen.
Und wie bringen wir das mit der Bereitschaft des Paulus „allen alles zu werden“ zusammen? Im
Grunde genommen ist es gar nicht so kompliziert, ein Widerspruch zwischen den angesprochenen
biblischen Texten besteht allenfalls auf den ersten Blick. Auch Paulus geht es nicht darum, den
vielfältigen Erwartungen der anderen einfach zu entsprechen — ganz im Gegenteil. Wer seine
Briefe liest, erfährt, dass Paulus ein eher streitlustiger Zeitgenosse ist, der gern einmal provoziert
und ganz gewiss niemandem einfach nach dem Munde redet. Ihm geht es wohl vor allen Dingen
um die Bereitschaft, sich als Verkünder der Frohen Botschaft in den anderen hineinzuversetzen,
seine Ängste, Sorgen und Zweifel — so gut es geht — nachzuempfinden, um ihn so mit der
Frohen Botschaft zu erreichen. Dass das zwar Voraussetzung für die Verkündigung ist, aber eben
auch kein Selbstläufer, kein Automatismus weiß Paulus, denn er fügt ja an: „um auf jeden Fall
einige zu retten.“ Sowohl in der Verkündigung Jesu als auch seines Apostels geht es also darum,

sich in Menschen hineinzuversetzen, etwas von ihren Sorgen und Ängsten zu verstehen — ohne
ihnen letztlich nach dem Munde zu reden. Das ist der Anstoß, den wir als Kirche und als Einzelne
hier mitnehmen können.
Bevor wir fragen, was das praktisch bedeutet, sollten wir uns klar machen, dass dies letztlich das
Prinzip des christlichen Glaubens ist: Menschwerdung! Gott versetzt sich in uns hinein — in einem
sehr wörtlichen, alle Vorstellungen sprengenden Sinne: Er wird selbst Mensch. Und doch erfüllt er
nicht einfach die Erwartungen anderer. Vor vierzehn Tagen, als uns sein erster öffentlicher Auftritt
im Sonntagsevangelium begegnete, rief er zur Umkehr auf und heute entzieht er sich den
Erwartungen der Menschen, um anderswo zu predigen. Doch auch auf einer rein menschlichen
Ebene leuchtet dies ein. Damit Begegnung und Dialog möglich sind, muss es ein Mindestmaß an
Bereitschaft und Fähigkeit geben, sich in den anderen hineinzuversetzen. Und doch kann das nicht
bedeuten, dass ich schlicht die Erwartungen des anderen erfülle oder er meine. Jean-Paul Sartre,
ein französischer Philosoph, sagte einmal: Die Hölle, das sind die anderen! Sartre lehnte den
Glauben an Gott ab, aber er war überzeugt, für die Hölle braucht es keinen Gott und keinen Teufel,
die können die Menschen einander selbst bereiten. Gewiss haben Menschen einander
Schreckliches angetan, doch ich glaube, das Schlimmste ist eher: ich bin völlig allein. Niemand ist
da. Es ist, als ob ich in allen Spiegeln nur mich selbst sehe, alles ist nur ein Echo von mir. Wenn
andere nur meine Erwartungen erfüllten, nur das Echo meines Standpunkts wären, dann wäre ich
letztlich allein, und das wäre die Hölle. Dass ich anderen begegne, sie als von mir unterschieden
wahrnehme, ist Grundbedingung des Menschseins. Auch auf rein menschlicher Ebene leuchtet
ein: dass ich mich in andere hineinversetzen kann, ist Voraussetzung echter Begegnung, aber
genauso, dass die andern nicht nur meine Erwartungen erfüllen oder ich ihre.
Parktisch bedeutet dies für die Kirche, dass sie bereit sein muss, von anderen zu lernen, sich in
andere hineinzuversetzen und — so gut es geht — das, was sie umtreibt, zu verstehen. Wir
müssen einräumen, dass die Menschen uns das vielfach nicht mehr zutrauen. Gleichzeitig
bedeutet das nicht, dass wir versuchen müssen die Erwartungen jedes Einzelnen zu erfüllen, nur
weil er Kirchensteuer zahlt. Im Leben des Einzelnen kann diese Haltung bedeuten, sich einmal
manche Beziehung von außen anzusehen, als ginge es um zwei andere Menschen. Geht es
darum den anderen in seiner Situation zu verstehen, oder nur darum seine Erwartungen zu
erfüllen, damit er nicht beleidigt die Beziehung aufkündigt?
Die biblischen Texte, die wir bedacht haben, erinnern uns daran: Es geht darum, etwas von den
Sorgen und Ängsten der anderen zu verstehen, ohne einfach ihre Erwartungen zu erfüllen. Das gilt
für die Kirche wie für den Einzelnen. Gott hat uns dies in seiner Menschwerdung vorgelebt, doch
auch auf rein menschlicher Ebene leuchtet es ein. Wären die anderen nur das Echo dessen, was
ich sage und will, wäre ich praktisch allein. Und das wäre schlimmer als eine nicht erfüllte
Erwartung.