Liebe ist Entscheidung

6. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B; 1 Joh 4, 7–10; Joh 15, 9–17)

„Gott ist Liebe“, endlich ein Bibel-Zitat, das auch in unserer Zeit mehrheitsfähig ist! Liebe ist das, was alle wollen, sich wünschen, wonach sie sich sehnen. Was für eine wunderbare Religion, in der die Liebe Gott ist! Nach einem kleinen Moment des Aufseufzens kommt dann die Ernüchterung für uns als Christen. Ist dann nicht alles, was wir hier tun, überflüssig? Es reicht doch einfach zu lieben! Endlich kapieren es die Christen auch, denkt mancher Kirchenkritiker wohl süffisant. Sägt uns das Neue Testament mit seinem Wort von Gott, der Liebe ist, vielleicht den Ast ab, auf dem wir als Kirche sitzen? Ist Gott nun Liebe oder ist Liebe Gott?

Dass Menschen von dieser Vorstellung, Gott sei Liebe, so fasziniert sind, ist m.E. auch die Folge einer seltsamen Doppelprägung unserer Zeit. Einerseits sind wir durch und durch von der naturwissenschaftlichen Sicht auf die Welt bestimmt. Diese erklärt — mehr oder weniger — alle Abläufe in der Welt, Gott ist eine Annahme früherer Zeiten, die noch nicht so weit wie wir waren, oder eben ein Halt für Ungebildete heute. Doch offenbar genügt dies vielen Menschen nicht, denn daneben gibt es dann noch die Liebe als das unerklärbar Romantische, als das Gefühl, das alles will und — ganz wichtig — auch alles darf! So stecken wir offenbar in einem unauflösbaren Widerspruch fest: einerseits die nüchterne naturwissenschaftliche Sicht, in der kein Platz für Gott ist, anderseits die Flucht in eine Welt der romantischen Liebe, die die kalte Naturwissenschaft verneint und das Gefühl ins Göttliche hinein verklärt, das alles will und alles darf. Ein seltsamer Widerspruch in einer angeblich so rationalen Zeit.

Vielleicht helfen uns nun doch die biblischen Texte weiter. Wenn Gott tatsächlich einfach die Liebe wäre, die wir kennen und leben, wäre das — vorsichtig gesagt — seltsam. Wenn also die Menschen weniger lieben, gibt es dann auch weniger von Gott? Und wenn sie wieder mehr lieben, nimmt er irgendwie zu? Ganz so einfach kann es also nicht sein. Gott muss also einer sein, der nicht einfach dasselbe wie unsere Liebe ist, sondern unabhängig von ihr existiert. Und doch: die Liebe hat etwas Göttliches, etwas, das den Menschen übersteigt — wenn wir sie so verstehen, wie es das Evangelium uns nahelegt. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“, sagt Jesus. Es geht also nicht einfach um die Anziehungskraft der Geschlechter, auch nicht einfach um die Sorge der Eltern für ihren Nachwuchs, beides kennt ja auch das Tierreich, sondern um die Bereitschaft, die eigenen Interessen, das eigene Wohlergehen, im Extremfall das eigene Leben für andere Menschen zurückzustellen. Das ist etwas, das nur der Mensch kann und ihn zugleich übersteigt. Es ist keine Fähigkeit, die er einfach hat, hier leuchtet etwas Größeres, Bewunderungswürdiges auf — etwas Göttliches.

Diese Liebe ist etwas Göttliches, eben weil sie nicht nur ein Gefühl ist, das mich wegschwemmt. Sie ist eine Entscheidung, die ich treffen muss und die mir niemand abnehmen kann. Jesus hat das getan, indem er sein Leben hingab. So zeigt er uns, wer Gott ist: Gott ist der Liebende schlechthin, darum hat jede echte Liebe, die in diesem Sinne Hingabe für den anderen ist, etwas Göttliches — eben das ist mit der zuspitzenden Aussage „Gott ist Liebe“ gemeint.

Und diese weist uns auch den Weg aus dem genannten Widerspruch. Die Liebe, die uns im Evangelium begegnet, setzt zweierlei voraus: dass da eine Person ist, ein Jemand, und dass dieser entscheiden kann. Wahrhaft menschlich ist die Liebe dann, wenn sie mehr ist als ein Gefühl, wenn sie eine Entscheidung ist, eine Entscheidung für einen anderen da zu sein, meine eigenen Interessen zurückzustellen, oder schlicht die Entscheidung, ein Leben lang als Partner an der Seite des anderen zu stehen. Diese Entscheidung gründet in der Tiefe der Person, es gibt Gründe dafür oder dagegen, die Entscheidung treffen kann nur der Einzelne. So ist Liebe auch Bindung, Verantwortung — so macht sie menschliches Leben reich und sinnvoll. Als Gefühl, das alles wegschwemmt, ist sie letztlich so tödlich und zerstörerisch wie Überschwemmungen nun einmal sind. Und so zeigt sich uns auch die Bedeutung der Naturwissenschaft. Auch hier ist eine Person, ein Jemand, der sich entscheidet, die Welt und ihre Funktionsweise zu erforschen. So haben wir viele kostbare Erkenntnisse gewonnen — man denke an die Impfstoffe in der gegenwärtigen Krise —, aber das ist eine Sichtweise auf die Welt, die nur nach dem Wie fragt, nicht nach dem Warum und Wozu. Das ist der Blickwinkel des Glaubens, den die Naturwissenschaft nicht ersetzen kann, so wenig wie dieser jene ersetzen kann. Am Anfang steht jedenfalls immer der Mensch, die Person, die „Ich“ sagen kann, die entscheiden kann, entscheiden, die Welt zu erforschen und dem anderen zur Seite zu stehen. So ist der Widerspruch aufgehoben, der unsere Zeit prägt.

Dass ich da bin, entscheiden kann, dass ich lieben kann, ja in dieser Liebe mein Eigeninteresse — jenseits von biologischen Gegebenheiten — zurückstellen kann, ist ein Geheimnis, das mich auf das Geheimnis schlechthin verweist, auf den, der uns in Jesus als der Liebende schlechthin begegnet und den wir als Glaubende Gott nennen. So bleibt die Frage an jeden von uns: wann habe ich zuletzt mein Eigeninteresse für einen anderen zurückgestellt — und nicht einfach für die eigenen Kindern oder Enkel?

Gott ist Liebe — das heißt Gott ist der Liebende schlechthin, so hat die Liebe, die Hingabe und Entscheidung ist, etwas Göttliches. Wo wir dies recht verstehen, löst sich der Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Sicht der Welt und der Flucht in ein romantisches Gefühl, das alles darf, auf. Es geht um die Person, das „Ich“ und die Entscheidung. Die Erforschung der Welt ist eine solche Entscheidung, die uns hilft, vieles besser zu machen, aber auch Liebe ist in ihrem tiefsten, göttlichen Sinne eine solche Entscheidung — zu helfen, Verantwortung zu übernehmen. Das Ich, das solche Entscheidungen treffen kann, bleibt ein Geheimnis, das auf das tiefste Geheimnis verweist, auf den Liebenden schlechthin: auf Gott. Gott ist Liebe.