Werte finden wir, wir erfinden sie nicht

7. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B; Joh 17, 6a.11b–19)

In der Welt, aber nicht von der Welt — so kann man wohl die Spannung beschreiben, in der nach den Worten des Johannes-Evangeliums die Jünger Jesu stehen. Jesus bittet den Vater ausdrücklich nicht darum, die Jünger aus der Welt zu nehmen, ja er betont, dass er die Seinen gerade in die Welt gesandt hat. Und doch sagt er: „Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin.“ Es ist wohl gerade diese Spannung, die uns als Kirche in dieser Zeit besonders zu schaffen macht. Wir sind in die Welt gesandt, da stimmt wohl jeder zu — aber „nicht von der Welt“? Mühen wir uns als Kirche heutzutage nicht ausdrücklich zu zeigen, dass wir zu dieser Welt gehören und eben keine abgefahrenen, weltfremden Spinner sind? In der Welt, aber nicht von der Welt — wie können wir das heute verstehen und verständlich machen?

Ich bin überzeugt, dass es am sinnvollsten ist zu zeigen, dass diese Spannung grundsätzlich nichts spezifisch Christliches ist, sondern immer da zumindest umrisshaft auftaucht, wo Menschen versuchen ihr Leben verantwortlich zu leben. Die Werte, die uns leiten — wie beispielsweise Rücksichtnahme oder Hilfsbereitschaft — können wir nämlich nicht erfinden, sondern nur finden, wir entdecken sie als uns gegeben. Es sind Werte, die unser Leben in der Welt leiten und so gelingen lassen, die aber letztlich nicht von der Welt sind, weil sie nicht von uns gemacht sind. Wir können sie nur anerkennen. Hier regt sich von verschiedener Seite Widerspruch. Werte lassen sich doch funktional begründen, d.h. ich stelle fest, das Zusammenleben funktioniert nur so, indem ich bestimmte Werte als verbindlich anerkenne. Werte sind also Produkte menschlicher Erfahrung, nichts weiter. Sie sind radikal von dieser Welt. Diese Sichtweise halte ich nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich. Was ist, wenn einer sagt, die Werte gehen mich nichts an, weil mir gleichgültig ist, ob das Zusammenleben funktioniert? Was heißt überhaupt „gelingendes Zusammenleben“? Menschen können da sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. Werte lassen sich so letztlich nicht in grundlegender Weise begründen. Werte können nicht einfach mehrheitlich bestimmt, nicht einfach durch Erfahrung aufgestellt, eben nicht erfunden werden, sondern gefunden. Sie sind uns vorgegeben und verpflichten uns. Sie sind in der Welt, aber nicht von der Welt. Wo wir das nicht erkennen, droht uns — so hat es der britische Schriftsteller C.S. Lewis in einem kleinen Büchlein gesagt — „Die Abschaffung des Menschen“. Wo der Mensch grundlegende Werte nicht entgegennehmen, nicht als vorgegeben annehmen will, verheddert er sich in der Begründung zu seinem eigenen Schaden. Lewis bringt es im letzten Satz seines Büchleins auf den Punkt: „Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.“

Ich glaube, dies wird noch deutlicher, wenn wir auf die Umsetzung der Werte schauen. Werte wie Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme werden sicher von den allermeisten als wichtig anerkannt, aber die große Frage bleibt dann, wie man sie konkret umsetzt: was es heißt es, in einer ganz bestimmten Situation hilfsbereit zu sein? Ich denke, wenn wir ehrlich sind, müssen wir einräumen, dass wir Menschen dazu neigen, es uns bequem zu machen. Das bedeutet eben auch, dass wir natürlich sagen, Werte sind wichtig, aber im konkreten Fall dazu neigen, diese Werte so auszulegen, dass es für uns bequem ist. Und eben das ist die Gefahr. Wenn Werte nur unser Produkt sind, wenn sie einzig und allein aus der Erfahrung hervorgegangen sind, wenn sie nur Regeln sind, die wir aufgestellt haben, dann hindert uns letztlich nichts daran, sie so lange auszuhöhlen, bis sie nur noch dem Namen nach existieren. Was unser Produkt, was unsere Erfindung ist, das steht auch unserem Zugriff zur Verfügung. Wenn Werte auf Dauer gelebt werden sollen, müssen sie unserem Zugriff entzogen sein, d.h. sie sind uns vorgegeben, sie verpflichten uns. So bleiben sie eine Herausforderung und das müssen sie sein, wenn sie lebendig bleiben sollen. Werte sind eine Herausforderung, der ich mich stellen muss, weil ich sie mir nicht selbst gestellt habe. Ich muss mich anstrengen, um sie zu verwirklichen.

Ganz ähnlich funktioniert doch auch unser Grundgesetz. Die ersten zwanzig Artikel, in denen die grundlegenden Werte wie Menschenwürde und Demokratie formuliert sind, stehen unter der so genannten Ewigkeitsgarantie, d.h. sie dürfen nicht abgeschafft werden, während alle anderen Artikel des Grundgesetzes und natürlich auch die übrigen Gesetze von der entsprechenden Mehrheit geändert bzw. abgeschafft werden können. Hier spiegelt sich doch die bereits formulierte Erkenntnis wider. Gewiss gibt es Regeln des Zusammenlebens, die wir ändern können und gelegentlich auch müssen, aber diese gründen in grundlegenden Werten, die nicht der Mehrheitsmeinung unterliegen, sondern — um es mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes zu sagen — „unantastbar“ sind.

In einer Zeit, in der vielen Freiheit über alles geht, wird eine solche Sicht der Dinge wohl anecken. Man wird es als Bedrohung der eigenen Freiheit sehen, solche gegebenen Werte zu akzeptieren und wird stattdessen fordern, Werte als Produkt der eigenen freien Entscheidung anzusehen. Dabei übersieht man aber etwas Wesentliches: Wenn ich für meine Freiheit von Anfang an einen hohen Stellenwert beanspruche, wenn ein Diktator uns Freiheit zwar nehmen kann, aber es eigentlich nicht darf, dann muss dieser Freiheit tatsächlich etwas vorausgehen: nämlich ihre unbedingte Anerkennung als ein Wert, den wir nicht erfinden, sondern finden.

In der Welt, aber nicht von der Welt — die Kirche tut sich zurzeit mit dieser Spannung schwer. Dabei sollten wir erkennen, dass sie zumindest umrisshaft in jedem verantwortlich geführten Leben liegt. Werte sind nicht unser Produkt, nicht unsere Erfindung, sie sind uns vorgegeben, sie verpflichten uns. Nur so bleiben sie auch Herausforderung und werden nicht nur selbstgemachte Regeln, die wir irgendwann vollständig aushöhlen können. Wir finden Werte, wir erfinden sie nicht. Mag für ein bürgerliches Zusammenleben genügen zu sagen, die Werte sind uns vorgegeben, für uns als Glaubende ist die Quelle der Werte niemand anderes als Gott. Sind wir auch in der Welt, so gehören wir doch letztlich zu ihm.