Nicht die Tradition verfälscht, sondern …

Hochfest der Apostel Petrus und Paulus (Mt 16, 13-19)

„Tradition ist das System, das verhindern soll, dass Kinder ihre Eltern übertreffen“, sagte der israelische Satiriker Ephraim Kishon. Die Deutung von Tradition als eine Art Gefängnis leuchtet heutzutage wohl vielen Menschen ein. Für uns als Kirche ist das — vorsichtig gesagt — eine Herausforderung, da doch unser Glaube selbst gewissermaßen Tradition ist, was wörtlich übersetzt nichts anderes als Weitergabe bedeutet. Wir glauben, dass von den Zeiten der Apostel  an der Glaube an Jesus Christus treu und zuverlässig weitergegeben wurde. Gewiss ist vieles seither anders geworden, weil die Zeitumstände anders geworden sind, und wir — geleitet vom Heiligen Geist — so auch tiefer in das Verständnis unseres Glaubens eingedrungen sind, aber der Kern ist derselbe geblieben: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“, wie Petrus bekennt. Ihm gilt die Verheißung des Herrn : Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen. Ist Tradition nun eine Art Gefängnis, oder ist es sinnvoll, sich in diese zu stellen?

Letztlich entkommen wir Traditionen nie vollständig, auch wenn unsere Zeit uns das vorgaukeln möchte. Wir alle stehen in vielfältigen Traditionen — im Kleinen wie im Großen: in der Familie, in unserem Land, in der Gesellschaft. Und auch wenn ich mich dagegen wehre, bin ich gerade so dieser Tradition ausgesetzt, vielleicht sogar in sie verstrickt. Wir alle bauen auf dem auf, was vor uns geschaffen, gelebt und gedacht wurde. Gänzlich entkommen wir den Traditionen nie. Wenn wir das Evangelium genauer in den Blick nehmen, fällt auf, dass es hier um Verfälschung im weitesten Sinne geht. Es geht darum, was die Leute denken, wie also Jesu Verkündigung außerhalb des engen Jüngerkreises bei der mehr oder weniger großen Menge angekommen ist. Das Ergebnis ist eher ernüchternd. Für wen halten die Leute mich?, erkundigt sich Jesus. Für alles Mögliche, für irgendeinen Propheten vielleicht, so könnte man zusammenfassend die Antworten der Jünger wiedergeben. Das kann — am Rande bemerkt — auch für jeden Verkünder des Glaubens ein Trost sein. Wenn es schon Jesus so geht, dass die Leute alles Mögliche raushören, was man so nicht gesagt hat … Die Verfälschung dessen, was Jesus gesagt hat, geschieht nicht im Jüngerkreis, hier kann er selbst immer wieder eingreifen, Missverständnisse, die durchaus vorhanden sind, klären. Die Verfälschung geschieht außerhalb, wo Menschen nur mit einem Ohr zuhören oder einfach das hören, was ihnen gefällt und das dann so mitnehmen.

Ich denke, hierin liegt nicht nur eine Wahrheit für den christlichen Glauben, sondern etwas, was ganz allgemein wenigstens als eine Art Faustregel gelten kann. Die Verfälschung geschieht aufs Ganze gesehen nicht innerhalb einer großen Tradition, sie geschieht eher da, wo Menschen diese verlassen. Vielleicht verstehen wir Tradition auch oft zu eng als eine Überlieferungslinie, als ein paar Sätze, die es weiterzugeben gilt. Nein, eine große Tradition — und das gilt gerade und insbesondere für den christlichen Glauben — ist etwas Reiches, und das bedeutet auch etwas Spannungsreiches. Nicht umsonst heißt „katholisch“ wörtlich übersetzt „allumfassend“, damit ist auch ein innerer Reichtum sich ergänzender Traditionslinien gemeint, für die es manchmal auch einen gewissen Aufwand braucht, um sie zusammenzuhalten. Schaut man einmal auf die Theologie- und Kirchengeschichte des Mittelalters, ist man erstaunt, welchen Reichtum und welche Spannbreite es damals gab. Man denke beispielsweise an den Theologen und Kardinal Nikolaus von Kues, der sich bereits im späten Mittelalter Gedanken machte über ein friedliches Zusammenleben der Religionen, ein auch heute hochaktuelles Thema. Es lohnt sich die Auseinandersetzung innerhalb der Tradition, nicht außerhalb zu wagen. Wer sich der Tradition stellt, ihr auch kritisch begegnet, profitiert von ihr.

Wer sich stattdessen außerhalb der Tradition stellt, der gerät schnell auf Abwege. Wenn man auch nur kurz auf diejenigen schaut, die ganz bewusst der christlichen Kirche und ihrer Tradition vorwerfen, die Botschaft Jesu zu verfälschen, springen einem manche Buchtitel geradezu ins Auge, die dann Titel tragen wie: Was Jesus wirklich sagen wollte — oder so ähnlich. Und das weiß der Autor, weil …?, frage ich mich dann. Ist es nicht doch glaubwürdiger, dass eine ununterbrochene Traditionslinie, wie es sie in der Kirche gibt, diese Botschaft — trotz aller Schwierigkeiten — bewahrt hat, als dass ein Autor unserer Tage ganz persönlich weiß, was genau Jesus wirklich sagen wollte, als sei er persönlich dabei gewesen?

Verfälschungen geschehen eben eher da, wo Menschen eine große Tradition verlassen. Dabei zeigt sich dann immer wieder ein eigenartiges Phänomen. Das, was man bisher der entsprechenden Tradition vorgeworfen hat, tut man dann selbst, weist aber jeden Vergleich empört zurück, denn dieses Mal geht es ja wirklich um das Richtige, das Entscheidende. Leute, die der Kirche Dogmatismus vorwarfen, also das halsstarrige Festhalten an angeblich unumstößlichen Wahrheiten, machen nun dasselbe: sie verkünden ihre abweichenden, neuen Wahrheiten mit eben der Halsstarrigkeit, die sie der Kirche vorwarfen. Jetzt geht es ja tatsächlich um das Wahre! Mir scheint, dass sich in unserer Gesellschaft gerade Ähnliches abspielt. Zugegeben sehr vereinfacht gesagt: Fasten und Verzicht mit christlichem Hintergrund ist blöd, Fasten und Verzicht um der Umwelt willen ist gut und sinnvoll. Menschen, die der Kirche das Festhalten an unumstößlichen Wahrheiten vorwerfen, bilden nun neue, nun tatsächlich unumstößliche Wahrheiten. Wo wir wahrhaft große Traditionen ernst nehmen, entdecken wir in ihnen auch einen Reichtum, auch die Fähigkeit zu Korrektur und Veränderung. Wer sich außerhalb stellt, ist in der Versuchung, seine persönlichen Erkenntnisse oder die seiner Gruppe als unumstößlich anzusehen. Man kann stattdessen vom Reichtum der Tradition profitieren. Die Menschen der vergangenen zweitausend Jahre waren auch nicht alle dümmer als wir.

Tradition ist also — recht verstanden — kein Gefängnis. Vielmehr gilt eher als eine Art Faustregel: Die Verfälschung geschieht aufs Ganze gesehen nicht innerhalb einer großen Tradition, sie geschieht eher da, wo Menschen diese verlassen. Der christliche Glaube ist eine solche große Tradition mit einem inneren Reichtum. Die Auseinandersetzung lohnt sich innerhalb dieser Tradition — nicht außerhalb. Da gerät man schnell auf Abwege und bildet sich ein, man wüsste ganz persönlich und ganz genau, was Jesus zu sagen hat. So ereignet sich auch ein eigenartiges Phänomen. Was man der Kirche vorwarf, tut man nun selbst. Die eigenen, ganz persönlichen Einsichten sind nun plötzlich unumstößliche Wahrheiten, an denen festgehalten werden muss. Bleiben wir doch lieber in unserer Tradition, jener reichen, im wahrsten Sinne des Wortes katholischen, also allumfassenden Tradition und bekennen mit Petrus: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“