Die Versuchung das Schicksal auf die Probe zu stellen

1. Fastensonntag (Lesejahr C; Lk 4, 1-13)

„Versuchungen sollte man nachgeben, wer weiß, ob sie wiederkommen?“, sagte der Schriftsteller Oscar Wilde. Lässig, charmant und dem Leben zugewandt klingen diese Worte. Wie altbacken und überflüssig mag da das Evangelium mit seiner Warnung vor der Versuchung klingen! Ist das nicht der Neid derer, die den Mut zum Leben nicht haben? Ist die Warnung vor der Versuchung nicht der Versuch Macht über Menschen auszuüben anstatt ihnen Freiheit zu gönnen — auch die Freiheit zu scheitern? Das Scheitern ist vielleicht der Punkt, Versuchung genauer anzuschauen, auch die Verletzungen, die damit einhergehen, die Selbstzweifel. Bin ich vielleicht doch nicht so toll, wie ich aller Welt zeigen möchte? Und plötzlich sind sie doch da, die Versuchungen, den anderen zu belügen weil man gut dastehen will, hier und da ein bisschen zu schummeln, es merkt ja keiner und tut keinem weh. Und dann knallt es doch, weil einer was rausfindet — und plötzlich stellt man fest, dass Menschen nicht gern belogen und betrogen werden. Tja, hätte man der Versuchung vielleicht nicht nachgegeben sollen … Sollten wir vielleicht doch mit den Versuchungen vorsichtig sein? Und was hat der Glaube damit zu tun?

Versuchung ist zunächst etwas Unumgängliches, denn es ist eine Form des Zweifels. Ich bin im Zweifel, was der richtige Weg ist. Ich zweifle, ob ich etwas auf dem vorgesehenen Weg schaffe, und frage mich, ob ich ein bisschen schummeln soll. Der alltäglichste Anlass für solchen Zweifel ist die Bequemlichkeit. Muss das wirklich sein? Muss ich helfen, wenn ich auch bequem auf dem Sofa liegen oder einfach ausschlafen könnte? Doch es gibt den tieferen Zweifel, der wirklich nagt und den Menschen an den Rand führt, so wie es Jesus im Evangelium erlebt. Der Teufel stellt ihn oben auf das Tempel-Gebäude, er soll sich hinunterwerfen und so sein Vertrauen in Gott beweisen. Hier zeigt sich vielleicht am tiefsten, was jener urmenschliche Zweifel ist, der in uns nagt und den wir Versuchung nennen. Es ist die Versuchung, das Schicksal auf die Probe zu stellen. Die meisten werden dieses Gegenüber nicht oder nicht mehr Gott nennen, aber das spielt hier erstmal keine Rolle. Es ist dieser innere Zweifel, diese Verlockung das Schicksal, irgendeine höhere Macht auf die Probe zu stellen. Bei einem Mächtigen mag das die Versuchung zum Krieg sein, denn ich kann es, bin stärker als das Nachbarland, ich habe noch ein paar Atombomben, mir kann niemand etwas. Oder im Alltag einfach mal ein bisschen zu schummeln … und noch ein bisschen … und noch ein bisschen, es sieht ja keiner — oder doch? Oder man ist weit gekommen, hat vieles erreicht, und muss nun — irgendwie grundlos — noch einen draufsetzen. Warum tun Menschen das? Irgendwie hat der Mensch Lust das Schicksal herauszufordern, in ihm nagt der Zweifel, ob es doch etwas Größeres gibt, das er nun herausfordern muss. Das ist der Kitzel, den er braucht, die letzte Selbstbestätigung, dass da keiner ist, der größer ist als ich, sei es ein Gott oder das Schicksal. Der letzte Zweifel im Menschen, wer er ist, wird zu Verlockung, es auszuprobieren, ob noch ein Größerer existiert.

Doch eigentlich begibt der Mensch sich so in einen Selbstwiderspruch. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, sagt Jesus und in der Fassung des Matthäus ergänzt er: „sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“ Dem Menschen unserer Zeit ist solch eine Aussage fremd, gewiss, der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern auch von Fleisch oder auch von Tofu, mag mancher Spaßvogel ergänzen, aber er lebt von dem, was diese Welt bietet. Gott oder ähnliches braucht es nicht. Tatsächlich? Dass der Mensch aufgrund jenes letzten, wahrscheinlich meist uneingestandenen Zweifels das Schicksal auf die Probe stellen will, dass er jenen Kitzel sucht, ob er vielleicht doch der Größte ist und da kein Gott oder Schicksal sich ihm in den Weg stellt — all das zeigt doch, dass im Menschen eine Unruhe ist, die nicht allein durch Brot, durch das, was die Welt geben kann, geheilt werden kann. Der Mensch sucht nach dem, was größer ist als er — und wenn er es durch Herausforderung und Provokation tut.

Doch das Schicksal auf die Probe zu stellen, geht letztlich immer schief. Es verletzt Menschen, die so zu Opfern werden, es verletzt den, der es versucht, weil er sich selbst überschätzt — und lässt doch nur eine Leere zurück, der Zweifel bleibt, ob da nicht doch etwas Größeres ist, spätestens wenn der Tod naht. Das Evangelium sagt, der Gott, an den wir glauben, ist die Heilung dieses letzten nagenden Zweifels. Ja, es gibt ihn, Gott, der die Welt in den Händen hält, aus dessen Liebe ich in jedem Augenblick hervorgehe, aber er ist nicht einfach der Größere, er lässt mich — in gewissem Sinne — der Größere sein. Er wird ein Mensch in Jesus, durchlebt alles Menschliche, auch die Versuchung. Er lässt mich größer sein, indem ich „Nein“ zu ihm sagen kann. In der Eucharistie kommt er als ein Stück Brot, klein, unauffällig, ich kann es jederzeit zurückweisen. Gott lässt mich der Größere sein, weil es darauf letztlich nicht ankommt. Er sagt gewissermaßen: Sei der Größere, Mensch, wenn es dir hilft, aber sieh ein, dass das letztlich nicht zählt. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er lebt aus der Quelle, die er selbst nicht machen kann. Wir alle leben davon, dass andere zu uns „Ja“ sagen, doch jedes menschliche „Ja“ ist zerbrechlich und vergänglich. Gott allein ist jenes Ja, das nie wankt, das nie vergeht. Er ist der Größere, den der Mensch doch nie los wird — auch wenn er meint ihn herauszufordern.

Versuchungen gehören zu unserem Leben, weil sie eine Form des Zweifels sind. Die vielleicht größte Versuchung ist das Schicksal auf die Probe zu stellen, denn am Menschen nagt der  Zweifel, ob da nicht ein Größerer ist. Doch so erhält der Mensch keine Antwort. Der Gott, an den wir glauben, ist die Antwort. Er lässt den Menschen der Größere sein, um ihm zu zeigen, dass es darauf gar nicht ankommt. Was zählt, ist: Wir leben aus seiner Liebe.