Einer in Christus sind wir in der lebendigen Spannung von Gleichheit und Verschiedenheit

12. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Gal 3, 26–29; Lk 9, 18–24)

Eine der prägenden Gestalten des Neuen Testaments ist der Apostel Paulus. Paulus ist ein origineller und ungewöhnlicher Verkünder der Frohen Botschaft, dessen Denken viele beeinflusst hat. „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“, schreibt dieser Apostel an die Christen in Galatien. Für damalige Zeiten war das revolutionär, Standesunterschiede sollen nicht mehr zählen? Man mag sich ausrechnen, wie anziehend eine solche Vision gerade für die war, die in jener Gesellschaft ganz unten waren. Doch Moment mal … ist das nicht heute auch noch revolutionär? Gerade in der Kirche?! Fundamentale Gleichheit ist nicht das, was die meisten Menschen heutzutage mit der Kirche verbinden. Müssen wir das Paulus-Wort neu entdecken? Wie sieht es aus mit Kirche und Gleichheit?

Der Abschnitt, den wir gehört haben, ist vergleichsweise kurz und lässt den größeren Zusammenhang nicht erkennen. In Galatien gab es einen Streit, ob Christen nun das jüdische Gesetz halten müssten oder nicht, da einige Leute aus Jerusalem offenbar die Einhaltung des Gesetzes verlangten. Paulus hat in diesem Zusammenhang in leidenschaftlicher Weise an das Apostelkonzil erinnert, das beschlossen hat, dass dieses Gesetz eben nicht für Christen gilt, denn wir alle sind einer in Christus, egal ob Jude oder Nicht-Jude oder was auch immer. Es gibt keinen vorrangigen Zugang zum Heil, es gibt nur den in Christus, und der ist uns durch die Taufe geschenkt — gleichgültig ob Jude oder nicht, ob Mann oder Frau. Paulus will ganz offensichtlich nicht alle Unterschiede zwischen Menschen verneinen, sondern betonen, dass alle den gleichen Zugang zum Heil haben, egal wie sehr sie sich sonst unterscheiden mögen. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth greift er jenes Bild „alle in Christus“ auf, indem er davon spricht, dass durch die Taufe alle in Christus einen gemeinsamen Leib bilden, und begründet so die Unterschiedlichkeit der einzelnen Begabungen und Funktionen in der christlichen Gemeinde, so wie eben auch im Leib die Glieder verschiedene Aufgaben haben und nur so — in dieser Verschiedenheit — den gemeinsamen Leib bilden, also „einer in Christus“ sind. Nur in dieser Spannung von Gleichheit und Verschiedenheit sind die Getauften „einer in Christus“.

Diese Sicht der Dinge mag — gerade in unserer Zeit — ein wenig enttäuschen. Sind wir nicht für radikale Gleichheit, so dass eine Kirche mit Papst und Bischöfen vielen fremd, ja falsch vorkommt? Obwohl … anderseits sind wir doch auch für radikale Verschiedenheit, denn jeder soll ja sein eigenes Leben leben, sein Ding machen, wie das dann heißt. Gleich an Rechten vielleicht, aber sonst verschieden … und was ist mit den unterschiedlichen Herausforderungen? Verlangen die nicht nach unterschiedlichen Begabungen — und somit auch Funktionen? Das scheint mir ein Problem unserer Zeit zu sein, dass wir mit Gleichheit und Verschiedenheit nicht recht umgehen können — was Auswirkungen bis ins Schulsystem hat. Einerseits sucht man in Bereichen, wo eine bestimmte Ähnlichkeit oder gar Gleichheit nicht ungewöhnlich ist, unbedingt Verschiedenheit, man will sich durch einen bestimmten Lebensstil von anderen abheben, und landet dann doch oft in einer Gleichförmigkeit, in der alle dieselben Handys haben und dieselbe Musik hören, während man andererseits Gleichheit fordert, wo doch Menschen eindeutig verschieden sind — in ihren Neigungen und Begabungen.

Es gibt zweifellos Versuche die Beziehung zwischen Gleichheit und Verschiedenheit zu erfassen, ich will versuchen — vom biblischen Beispiel des Paulus ausgehend — ebenfalls solches zu wagen. Gleichheit und Verschiedenheit sind zwei Pole, zwischen denen wir uns bewegen, mal geht es mehr in die eine Richtung, mal mehr in die andere. Es geht hier gar nicht um die Mitte, sondern um das In-Bewegung-Bleiben. Tatsächlich ist eben manchmal mehr Verschiedenheit nötig und manchmal mehr Gleichheit. Paulus sieht dies offenbar auch so, wenn er im heutigen Abschnitt das „einer in Christus“ betont, im ersten Brief an die Korinther diese Einheit als Leib mit unterschiedlichen Gliedern ausdifferenziert. Vielleicht kann man es so sagen: In der Gleichheit muss immer auch Raum für Verschiedenheit sein, und in der Verschiedenheit muss immer auch Gleichheit wenigstens im Blick sein. Alle haben dieselben Rechte, das ist in einem Rechtsstaat wohl die fundamentale Gleichheit. Mancher wird nun anmerken, dass dies nur in der Theorie so ist. Da ist wohl Wahres dran, nichts auf Erden ist vollkommen, aber bedenken wir auch folgendes: Auch in der Gleichheit der Rechte leuchtet Verschiedenheit auf, deshalb gibt es die Rechtsprechung, jede Situation, über die geurteilt werden muss, ist verschieden und vielschichtig, deshalb gibt es unterschiedliche Urteile, auch wenn sich manches auf den ersten Blick ähnelt. Und in der Verschiedenheit der Begabungen und Funktionen muss immer auch Gleichheit zumindest aufleuchten. Das heißt dann, wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Mensch Begabungen hat, und dass Begabungen — wie Paulus im ersten Brief an die Korinther betont — immer der Gemeinschaft dienen müssen. Oder wenn wir das Wort Jesu von der Kreuzesnachfolge hören: Es braucht eine grundlegende Solidarität, weil wir alle eine Last zu tragen haben, das gilt ohne Ausnahme, das ist unsere Gleichheit. Und doch sind es nicht nur verschiedene Lasten, sondern vor allem auch verschiedene Weisen damit umzugehen. Und die sollten wir einander auch zugestehen. Gerade wenn wir Ähnliches zu tragen haben, sollten wir einander beistehen — ohne vom anderen zu verlangen, dass er mit seiner Last genauso umgeht wie ich.

„Ihr alle seid einer in Christus“, sagt Paulus. Der genaue Blick zeigt uns, dass es ihm nicht um eine Gleichförmigkeit geht, sondern dass wir als Getaufte gerade in der Spannung von Gleichheit und Verschiedenheit „einer in Christus“ sind. Mir scheint heutzutage gerade diese Beziehung zwischen Gleichheit und Verschiedenheit durcheinander geraten zu sein. Beides sind Pole, die zueinander in Spannung stehen, in der Gleichheit muss auch die Verschiedenheit aufleuchten und umgekehrt. Gerade wenn wir beispielsweise eine gleiche oder ähnliche Last zu tragen haben, sollten wir einander beistehen, ohne zu verlangen, dass wir auf dieselbe Weise mit unserer Last umgehen. Einer in Christus sind wir in der lebendigen Spannung von Gleichheit und Verschiedenheit, nicht in Gleichförmigkeit oder Gegeneinander.