Gehalten statt rat- und hilflos in den Umwälzungen der Zeit

23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C; Weish 9, 13–19; Lk 14, 25–33)

Volks- oder Entscheidungskirche — so hieß eine beliebte Fragestellung in den 1990er Jahren. Soll die Kirche nur für die ganz entschiedenen Christen da sein, oder soll sie ganz bewusst möglichst alle einschließen, also auch die, die nur punktuell mit Kirche in Berührung kommen? Ob es uns gefällt oder nicht, Kirche ist längst zu einer Art Entscheidungskirche geworden. Es ist nicht mehr selbstverständlich in irgendeiner Weise mit der Kirche in Berührung zu sein, und dies erfordert daher zumindest eine Art Entscheidung. Doch ist es nicht das, was das Evangelium fordert? Kirche soll nicht eine Einrichtung bürgerlicher Behäbigkeit sein, nicht ein Kulturverein zur Unterhaltung dorfprägender Gebäude namens Kirche — sondern Gemeinschaft derer, die sich entscheiden, Jesus nachzufolgen. Doch vor solchen Entscheidungen steht der Mensch unserer Zeit rat- und hilflos. Was soll mir das bringen? Ist das nicht eine Bindung, ohne die ich mein Leben besser und leichter leben kann?

Gerade Letzteres scheint mit Blick auf das Evangelium ganz unausweichlich zu sein. Die eigene Herkunft zu verachten, das Kreuz auf sich zu nehmen — und am allerschlimmsten: auf den ganzen Besitz zu verzichten. Wirkungsvoller kann man die Leute wohl nicht abschrecken. Oder ist das vielleicht doch schon wieder eine Art subtiler Werbung, die neugierig macht? Wie auch immer — zunächst einmal war es eine realistische Ankündigung für die Zuhörer Jesu. Nachfolge Jesu gab es ja für sie nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz wörtlich. Sie gingen hinter Jesus her, wie die neue Einheitsübersetzung sagt, und das ging nur im Zurücklassen der familiären Bindungen. Es gab keine modernen Kommunikationsmittel, keine privaten Bankkonten, von denen man schnell am Automat was abholen konnte — wo auch immer. Es gab nur die Familie mit ihren Strukturen, ihrem Besitz und ihren Arbeitsmöglichkeiten, und die musste zurücklassen, wer Jesus ganz wortwörtlich folgte. Das ist nicht mehr unsere Herausforderung, aber die unsrige ist vielleicht nicht einfacher — und letztlich auf verblüffende Weise doch ähnlich: eine Entscheidung zu wagen, die bindet, und die gängigen Vorstellungen widerspricht.

Doch wenn man die Dinge so betrachtet, setzt man auch etwas voraus, das — zumindest meiner Beobachtung nach — so gar nicht stimmt. Es klingt, als sei der Mensch einfach stark und unabhängig, und so schaut er voller Verachtung auf die Kleinen, die offensichtlich zu solcher Stärke nicht fähig sind und deshalb ein Rezept von vorgestern bauchen: die Religion. Es mag sein, dass sich mancher gelegentlich so sieht, doch die Wirklichkeit sieht anders aus, vielfältiger. Ist es nicht so, dass der Mensch sich oft eher so fühlt, wie es die Lesung aus dem Buch der Weisheit beschreibt? „Unsicher sind die Überlegungen der Sterblichen … Wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht, und finden nur mit Mühe, was auf der Hand liegt“. Gerade in der Unsicherheit der Gegenwart, die mit Ukraine-Krieg, andauernder Corona-Krise, wirtschaftlichen Problemen so viel an Unsicherheit zu bieten hat. Man fühlt sich klein, überfordert, hilflos angesichts der Umwälzungen, die man kaum oder gar nicht beeinflussen kann. Welche Rezepte bietet dann die Gegenwart — wenn der Glaube ein Rezept von vorgestern ist, wie wohl viele überzeugt sind?

Wie so oft scheint mir die Antwort, die unsere Zeit gibt, in Wirklichkeit eine sehr alte zu sein. In der stoischen Philosophie, die zur Zeit des frühen Christentums in Mode war, gab es den „amor fati“, die Liebe zum Schicksal. Man soll einfach lernen das hinzunehmen, was das Schicksal einem auferlegt, ja es im besten Fall tatsächlich lieben, so schlimm es scheinbar auch sein mag. Heute sagt man eben, man soll annehmen, was das Leben bringt, man soll das Beste daraus machen, seine inneren Kräfte mobilisieren, um in allem das Gute zu entdecken. Manchmal wird das Ganze dann auch noch mit Schicksalsglaube oder dem Glauben an höhere Mächte garniert — je nach Geschmack. Gewiss ist diese Haltung nicht grundsätzlich falsch, sie klingt ja auch in der zitierten Lesung an. Für uns als Christen lenkt nicht ein blindes Schicksal die Welt, sondern der lebendige Gott — und doch stößt diese Haltung an ihre Grenzen. Wer möchte dem Leidenden sagen, er solle sein Schicksal tatsächlich lieben? Ich nicht. Manches trifft und verletzt bis ins Innerste, die Hilflosigkeit kann so nicht gelöst werden.

Eine andere Antwort auf die Hilflosigkeit ist der religiöse Fanatismus. Mag er auch in unseren Breitengraden seltener sein, so bringt er doch in den Augen vieler Religion ganz allgemein in Misskredit. Ein blindes Folgen religiöser Vorgaben ist jedoch nicht im Sinne des Evangeliums und löst das Problem der Hilflosigkeit nicht, sondern überdeckt es. In zwei kurzen Gleichnissen lädt Jesus im heutigen Evangelium die Menschen ja ganz ausdrücklich zum Nachdenken ein, ob sie ihm folgen wollen oder nicht. Glauben im Sinne des Evangeliums meint nie ein Ausschalten der Vernunft.

Was also ist die Antwort des Evangeliums? Nachfolge Jesu ruft nicht einfach nur in ein Lehrer-Schüler-Verhältnis hinein, wie das damals durchaus üblich war, sondern in die Freundschaft mit dem lebendigen Gott, der uns in Jesus begegnet. Ist es nicht so, dass Freundschaft auch sonst im Leben einen Halt in der Hilflosigkeit bietet? Ich rede von Freundschaft im tiefsten Sinne, jener ganz eigenen Mischung von Vertrauen und Sympathie, von Inspiration, Lehren und Lernen, von Widerstand und Hoffnung. Ein Freund wird in schweren Zeiten zur Inspiration, zum Vorbild, weil er Schweres meistert. Er nährt das Vertrauen in ihn, auch wenn ich ihn nicht immer verstehe. Manchmal reibt man sich aneinander, woraus in eigentümlicher Weise neue Hoffnung entsteht. In dieses Verhältnis sind wir mit Jesus eingeladen. Sicher, das braucht Zeit und Aufwand, ja auch Bereitschaft einmal in die Evangelien zu schauen, aber Jesus hat uns gewarnt. Wer einen Turm baut, muss sich genau überlegen, ob er die Mittel dazu hat. D a s ist unsere Herausforderung, die wir nicht auf alles verzichten müssen, um Jesus zu folgen.

Der starke Mensch, der sich über die Bindung lustig macht, die das Evangelium fordert — das ist oft genug nur Einbildung. Viel eher wird unsere Zeit von Hilflosigkeit des Einzelnen angesichts großer Umwälzungen bestimmt. Nicht blinder Fanatismus, nicht die Liebe zum blinden Schicksal sind die Antwort, sondern die Freundschaft mit Jesus, jene ganz eigene Mischung von Vertrauen, Sympathie, Inspiration, Lehren und Lernen, Widerstand und Hoffnung. So finde ich immer neu den Weg aus der Hilflosigkeit.