Liebe und Stärke gehören zusammen!

4. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C, 1 Kor 12,31-13,13; Lk 4,21-30)

Der Philosoph Friedrich Nietzsche bezeichnete das Christentum als eine Erfindung der Schwachen, um die Starken klein zu halten. So wenige Menschen heutzutage die Philosophie Nietzsches wirklich kennen, so scheint mir doch diese Ansicht auf die meisten Menschen abgefärbt zu haben. Religion mag als Zuckerguss für sentimentale Augenblicke des Lebens taugen, mit der Wirklichkeit des Alltags hat sie wenig zu tun. Hier muss der Mensch auf seine Vorteile schauen, muss sich durchsetzen, um es zu etwas zu bringen – gewiss nicht vollkommen rücksichtslos, das würden wohl viele verneinen, aber doch mit einer gesunden Portion Egoismus. Sagt nicht auch die Psychologie, dass man die eigenen Bedürfnisse nicht straflos missachten kann?

„Die Liebe ist langmütig…sie sucht nicht ihren Vorteil…sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand“, so beschreibt Paulus in seinem ersten Korintherbrief die Liebe als die Grundlage der christlichen Lebenseinstellung schlechthin. Offen gesagt und alle Sentimentalität beiseite gelassen: Ist das nicht gnadenlose Naivität? Ist eine solche christliche Lebenseinstellung nicht hoffnungslos naiv, schwach und wirklichkeitsfremd?

Es scheint zumindest auf den ersten Blick so, als beschreibe Paulus die christliche Liebe als die naiv-kindische Lebenseinstellung eines Menschen, der gänzlich auf sich selbst verzichtet. Doch bei genauem Hinsehen fällt noch eine andere Formulierung auf: „Als ich ein Kind war, …urteilte ich wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was an mir Kind war.“ Paulus vergleicht das Hineinwachsen in eine christliche Lebenshaltung ausdrücklich mit dem Erwachsen-Werden. Ist Christ-Sein doch nicht gleichbedeutend mit Naivität und Schwäche?

Versuchen wir es zur Abwechslung einmal andersherum: was heißt eigentlich stark zu sein? Was macht die Stärke aus, die anscheinend dem christlichen Glauben fehlt, jedenfalls wenn er konsequent gelebt wird? Mut, Entschlusskraft, Zupacken-Können – all das mögen Stichworte sein, die uns einfallen, wenn es um Stärke geht. Das sind aber nur Erscheinungsformen von Stärke, die nichts darüber aussagen, wie sie entsteht und was sie ausmacht. Ich denke, es sind vor allem zwei Haltungen, die Stärke ausmachen, auch wenn man sie möglicherweise nicht sofort damit in Verbindung bringt: Ausdauer und Weitblick. Wer stark sein will, braucht Ausdauer. „Politik ist das Bohren dicker Bretter“, sagte einmal der Soziologe Max Weber. Ich meine, das gilt auch für das Leben. Wer keine Ausdauer hat, der wird nichts bewirken. Dasselbe lässt sich auch über den Weitblick sagen. Stärke fruchtet nur, ja ist in ihrem eigentlichen Sinne erst Stärke, wenn sie auch Weitblick hat. Nur so kann der Mensch auch Dinge einordnen, wird ein Versagen nicht überbewerten, kann sich und anderen vergeben, wenn er den Gesamtzusammenhang zumindest versucht im Blick zu behalten. Stärke ohne Weitblick und Ausdauer ist wie einer der mit 200 km/h über die Autobahn rast – bei dichtem Nebel und Glatteis. Stärke ohne Weitblick und Ausdauer ist nur Zerstörung und oft genug wohl auch nur Angeberei und Theater.

Wenn wir mit dieser Erkenntnis erneut auf den biblischen Text blicken, ergibt sich ein anderes Bild. Die Liebe, wie Paulus sie versteht, lehrt genau das, was Stärke ausmacht: Ausdauer und Weitblick. An dieser Stelle muss wohl erläutert werden, dass die Liebe, von der Paulus schreibt nicht die  Liebe zwischen Mann und Frau meint  – so gern dieser Text auch bei Hochzeiten verwendet wird- und auch nicht Freundschaft oder Sympathie. Die altgriechische Sprache, in der das ganze Neue Testament geschrieben wurde, kann genauer unterscheiden. Es geht um das, was die Lateiner „Caritas“ nennen, es geht um Hilfsbereitschaft, um eine helfende und stützende Liebe. Und gerade diese Liebe ist „langmütig, …bläht sich nicht auf…hält allem stand“. Was ist das anderes als eine Beschreibung von Ausdauer, der Bereitschaft nicht aufzugeben, sondern es immer wieder zu versuchen, anstatt mit großem Getöse einmal etwas zu probieren und es bei ausbleibendem Erfolg sofort einzustellen? Liebe lehrt Geduld und Ausdauer. „Sie glaubt alles, hofft alles… Die Liebe hört niemals auf.“ Damit ist keine Naivität gemeint, die alles für bare Münze hält, was man ihr unterjubeln will. Glauben bedeutet hier kein alltägliches Meinen, sondern Vertrauen in Gott. Liebe lehrt den rechten Weitblick. Liebe ermutigt dazu zu vergeben, einen Einzelfall nicht überzubewerten, dem anderen und sich selbst eine neue Chance zu geben. Die Liebe ermöglicht die Bereitschaft, auch eine Niederlage nicht überzubewerten, sondern im Gesamtzusammenhang zu sehen. In der Liebe kann man Widerstand aushalten und daran wachsen. Deshalb gibt es keine wirkliche Liebe ohne Stärke und keine wirkliche Stärke ohne Liebe.

Wie eine Liebe, die auf wahrer Stärke beruht, aussieht, zeigt uns das Evangelium. Jesus scheint die Menschen seiner Heimatstadt geradezu zu provozieren. Erst sind alle begeistert, doch dann enttäuscht er sie. Wenn sie nur gekommen sind, um ihn als großen Wundertäter zu erleben, sind Sie umsonst gekommen. Jesus sagt das seinen Zuhörern mit brutaler Direktheit. Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten, Jesus kommt nur knapp mit dem Leben davon. Liebe, die auf Stärke beruht, wächst nicht nur an dem Widerstand, den sie erfährt. Sie wagt auch den Widerspruch. Liebe, die nur nach dem Munde redet, ist keine Liebe. Wie oft sind wir in der Gefahr, Dinge nicht auszusprechen, weil wir den Widerstand fürchten. Es geht nicht um eine falsche Streitlust, die manchmal sogar Gefallen daran findet, sich ins Abseits zu manövrieren und gerade diese Einsamkeit dann als Beweis für die Richtigkeit der eigenen Position versteht. Es geht darum in Achtung vor dem anderen und im aufmerksamen Hinhören auf den anderen und seine vielleicht gegenteilige Meinung auch die eigenen Argumente in ein Gespräch einzubringen, ohne immer gleich Angst haben zu müssen, was passiert, wenn man möglicherweise anderer Meinung ist.

Christ-Sein bedeutet also alles andere als weltfremde Naivität oder Schwäche. Wahre Stärke beruht auf Ausdauer und Weitblick. Ansonsten ist sie nur Theater und Angeberei oder noch schlimmer: Zerstörung. Genau das – Ausdauer und Weitblick - lehrt uns die Liebe im Sinne des Helfens und Stützens. Wer liebt, gibt nicht auf, wer liebt, gibt immer wieder eine neue Chance. Nur so erreicht der Mensch etwas. Gerade diese Liebe ist alles andere als weltfremd, sondern im Gegenteil der Wirklichkeit höchst angemessen. Sie weiß, dass die Welt oft genug widerständig ist für den, der etwas gestalten will, sie weiß, dass nur der etwas erreicht, der den Gesamtzusammenhang im Blick behält. In diesem Sinne gibt es keine wirkliche Liebe ohne Stärke und keine wirkliche Stärke ohne Liebe.