Nur wer Gott kennt, wird am Ende auch den Menschen lieben

5. Fastensonntag (Lesejahr C; Jes 43, 16–21; Joh 8, 1–11)

„Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“, so spricht der Herr im Prophetenbuch Jesaja. Äh, nein, eher nicht, möchte ich antworten. Ich bin versucht, in bitteren Sarkasmus auszuweichen angesichts dieser Verheißung. Nein, ich merke nicht, dass etwas neu wird. Im Gegenteil. Beginnt nicht auch mancher Glaubende gelegentlich zu zweifeln, ob es Gott tatsächlich braucht — angesichts so vieler, die ganz unverhohlen bekennen, dass ihnen Glaube und Religion gleichgültig sind? Kommt der Mensch — im Großen und Ganzen — nicht wunderbar ohne Gott aus?

Der alttestamentliche Text, den wir gehört haben, wendet sich an das jüdische Volk, das zumindest teilweise im Babylonischen Exil lebt, nachdem dieses Großreich ihren Staat besiegt hatte. Nachdem Babylon nun selbst von den Persern besiegt wurde, eröffnet sich ihnen die Möglichkeit eines neuen Anfangs in der Heimat. Der Prophet deutet dies als das Heilshandeln Gottes, der sein Volk einst aus Ägypten befreit hat. Die Verheißung des neuen Weges, den Gott führen wird, ist also nur aus der Vergangenheit heraus verständlich, in der Gott als Gott der Freiheit erfahren wurde — auch wenn die unmittelbare Vergangenheit des Exils nicht zum Rückblick einlädt. Wagen wir also ebenfalls den Blick zurück, wenn wir darüber nachdenken, ob der Mensch auch ohne Gott auskommt. Die größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts wurden von zwei Regimen ausgelöst, die sich ausdrücklich als atheistisch bzw. nichtchristlich verstanden, die einen neuen Menschen ohne Gott wollten: dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. Im Jahr 1952 — also nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges — beschrieb Romano Guardini die Irrungen und Wirrungen des Menschen auf der Suche nach sich selbst in einem Vortrag mit dem Titel „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“. Der Mensch — so darf man Guardini wohl zusammenfassen —, der sich von Gott abkehrt, wendet sich letztlich gegen sich selbst. Oder ein wenig salopper formuliert: er sägt den Ast ab, auf dem er sitzt.

Doch ist diese Diagnose noch glaubwürdig in unserer Gegenwart? Einer Zeit, die satt und zufrieden auch ohne Gott ist — auch wenn diese Sattheit und Zufriedenheit ein wenig gelitten hat in letzter Zeit? Die Glauben bestenfalls noch mit Schulterzucken kommentiert? Was heißt es, dass der Mensch ohne Gott sich letztlich gegen sich selbst wendet? Hier ist nicht vom einzelnen Menschen die Rede, sondern vom Menschen an sich, von einer Gesamtentwicklung, die unter den Menschen erfahrbar ist. Und ich bin der Überzeugung, dass eben diese Entwicklung — wenigstens in ihren Anfängen — bereits erfahrbar ist. Der Mensch ohne Gott kann Vorläufiges immer weniger annehmen, Unvollkommenes immer weniger akzeptieren. Ihm kommt eine gewisse Unerbittlichkeit zu, die Dinge müssen vollkommen werden, die Ziele müssen erreicht werden. Es darf keine Fehler geben! Wer nicht mitmacht, muss irgendwie bestraft, umerzogen werden! Ist diese Unerbittlichkeit nicht längst in vielen gesellschaftlichen Entwicklungen zu spüren — wenigsten keimhaft? Wird nicht allzu schnell ausgegrenzt, manchmal gar mundtot gemacht? Es gibt keinen Spielraum — oder religiös gesprochen: es gibt keine Gnade und keine Vergebung. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie“ — jene geniale Antwort Jesu, die durch Vergebung Lösung und Befreiung bringt, ohne Sünde zu verharmlosen oder gar zu verneinen, zeigt es uns. Gott ist es, der Vergebung bringen kann, der mich neu schaffen kann, so dass ich nicht mehr der bin, der dies oder jenes getan hat. Wo es Vergebung gibt, wird jener Unerbittlichkeit die Spitze abgebrochen, wo Menschen an Gott glauben, können sie es wagen, Unvollkommenes stehen zu lassen, weil Gott heilen und vollenden kann und wird. Wo der Mensch hingegen Gott ausschaltet, wird er unerbittlich, jeder Fehler muss bestraft werden, darf nicht vorkommen, muss ausgemerzt werden — bis die Gemeinschaft zerstört ist. Der Mensch wendet sich gegen sich selbst.

Doch seien wir vorsichtig, auch das lehrt uns das Evangelium. Die Männer, die jene Frau steinigen wollten, waren ebenfalls fromme Leute, die an Gott glaubten — oder hielten sich dafür. Wo Gott nur ein anderer Name für das Gesetz wird oder als Vorwand für politische Absichten verwendet wird, gerät der Mensch ebenfalls auf die schiefe Bahn. Gott ist nicht irgendetwas, eine Kraft, ein Gesetz — er ist Mensch geworden in Jesus von Nazareth, das muss unser Maßstab bleiben.

In seiner gottlosen Unerbittlichkeit wendet der Mensch sich letztlich gegen sich selbst. Dies ist auch ein Akt einer letzten Lieblosigkeit gegen sich selbst, gegen den Menschen. Müsste nicht hier irgendetwas den Menschen aufhalten? Eine gesunde Selbstliebe? Wenn wir auf unsere menschlichen Beziehungen schauen, zeigt sich uns folgendes: Zur Liebe fähig ist, wer sich selbst bedingungslos geliebt weiß. Diese Bedingungslosigkeit mag oft nur ein Wunsch, eine Ahnung sein, aber selbst als solche prägt sie den Menschen. Wer als Kind nicht die Liebe seiner Eltern erfahren hat, die nicht abhängig von Leistung ist, wird sich schwer damit tun, andere und auch sich selbst zu lieben. Zur Liebe fähig ist, wer selbst geliebt wird. Jene bedingungslose Liebe erfährt der Mensch durch Gott, durch dessen Liebe er erschaffen wurde, der um unseretwillen Mensch wurde bis zum letzten Atemzug. Das ist jene bedingungslose Liebe, die am Anfang des Menschen steht und durch die er — der Mensch an sich — lieben kann. Wo der Mensch diese Liebe verneint, wird er immer weniger fähig sein zu lieben. Am Ende nicht einmal sich selbst. Er wendet sich sich gegen sich selbst.

„Siehe, nun mache ich etwas Neues … Merkt ihr es nicht?“ Vielleicht beginnt ja doch etwas Neues, vielleicht sprießt es schon, ohne dass wir allzu viel davon merken. Vielleicht verstehen wir doch das Entscheidende: Wo der Mensch sich von Gott abwendet, wendet er sich letztlich auch gegen sich selbst. Er wird unerbittlich, hart, es darf keinen Fehler geben, nichts Unvollkommenes, denn es gibt keine Vergebung, keinen Gott, der heilen und vollenden kann. Der Mensch zerstört sich so letztlich selbst, da er die Fähigkeit zu lieben verlieren wird. Zur Liebe fähig ist der, der selbst geliebt wird. Jene bedingungslose Liebe, die den Menschen hervorgebracht hat, ist Gott. Verneint der Mensch diese Liebe, liebt er am Ende nicht einmal mehr sich selbst. Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen. Nur wer Gott kennt, wird am Ende auch den Menschen lieben.